Frage 1: Wie trägt das Internet dazu bei, politische Massen zu mobilisieren und zu organisieren?
Es konnte gezeigt werden, dass sich im Internet neue Formen der Massenkommunikation und Massenmobilisierung ausbilden. Mechanismen und Regeln aus dem Vor-Internet-Zeitalter werden damit nicht pauschal außer Kraft gesetzt. Allerdings verändern sich die zur Anwendung kommenden Instrumente wie auch die Verbreitungsmechanismen.
Die Antwort auf die Frage, wie das Internet dazu beiträgt politische Massen zu mobilisieren und zu organisieren, wurde innerhalb der Studie wie folgt zusammenfassend beantwortet.
Der Internet-Tsunami
Die untersuchten Phänomene der Massenkommunikation und Massenmobilisierung wurden aufgrund ihres plötzlichen Auftretens und ihrer umwälzenden Folgen als Internet-Tsunamis bezeichnet. Der Ursprung von Internet-Tsunamis sind Ereignisse in der Offline-Welt, die als medialer Inhalt festgehalten und in das Internet übertragen werden. Dieser mediale Inhalt fungiert dann als Auslöser, in dem er Reaktionen evoziert und im Internet Informationskaskaden auslöst. Die daraus entstehenden Meinungsimpulswellen weiten sich auf Mediensysteme aus und können Masseneffekte hervorrufen. Resultat ist die Bildung politischer Massen in der Offline-Sphäre, die Erruptionen in den bestehenden politischen Systemen hervorrufen können.
Internet-Tsunamis können nur rückwirkend betrachtet werden, da deren Ursprung in der Offline-Sphäre zu verorten ist. Der Ursprung ist in der Regel ein punktuelles Geschehnis oder eine Verkettung von Geschehnissen. Von diesen werden digitale Medieninhalte erzeugt (Text, Audio, Bild, Bewegtbild), die anschließend im Internet distribuiert werden. Innerhalb der Studie wurde dieser Gesamtvorgang als Input-Funktion bezeichnet.
Ein solcher digitaler Medieninhalt spiegelt eine bestimmte Weltsicht, eine politische Meinung bzw. Position wider. Er hat eine sinnstiftende und aktivierende Funktion und wurde daher als Meinungsimpuls bezeichnet. Meinungsimpulse fungieren als Initialzündung, eine Art der initialen Energie. Durch die beschleunigte Informationsweiterleitung durch diverse Nutzergruppen im Internet, auf die der Meinungsimpuls trifft, entsteht eine erste Informationskaskade. Diese erste Informationskaskade kann weitere Masseneffekte hervorrufen.
Auf der inhaltlichen Ebene konnte gezeigt werden, dass dieser Meinungsimpuls (zumindest in den untersuchten Fällen) immer ein Anliegen gegen einen bestehenden Zustand darstellt (Kapitel 4) Eine solche mediale Inszenierung eines negativen Anliegens besitzt eine Art der vereinenden Wirkung auf diverse Nutzergruppen. Nutzer scheinen zunächst am Unrecht interessiert zu sein und treten nach der ersten Empörung in einen Prozess der kollektiven Partizipation am Unrecht ein. Im Rahmen der ersten Meinungsimpulswelle wird meist ein Feindbild etabliert. Dies scheint eine wichtige Funktion bei der Mobilisierung politischer Massen auch im Internet darzustellen. Über ein Feindbild können sich unterschiedliche Nutzergruppen identifizieren, was eine erste Online-Massenbildung ermöglicht.
Bei der Gestaltung und Darstellung der Inhalte geht es dabei vorwiegend um die emotionale Aktivierung der Rezipienten. Oftmals werden dafür Mechanismen aus dem Marketing und der Unterhaltungsindustrie zur Anwendung gebracht. Diese werden jeweils auf eine bevorzugte Adressatengruppe abgestimmt (Kapitel 4.2).
Eine emotionale Aktivierung kann aber auch durch den reinen dokumentarischen Charakter bzw. den persönlichen Bezug des Rezipienten zum Sachverhalt hergestellt werden (z. B. Unterdrückungshandlungen durch ein Regime).
Schematischer Verlauf von Internet-Tsunamis
Im Rahmen der Studie konnte eine Ablaufheuristik entwickelt werden (vergleiche Kapitel 4.5, Abbildung 4‑12: Die Internet-Tsunami-Spirale), welche den Verlauf von Internet-Tsunamis in Phasen unterteilt. Die Phasen stehen dabei nicht in einem kausalmechanistischen Zusammenhang, sondern dienen lediglich der schematischen Einordnung von Vorgängen, die zur Entstehung eines Internet-Tsunamis beitragen.
Phase 1 beschreibt die erste Penetration von Netzwerken sowie die Identifizierung von neuralgischen Punkten. Über verschiedene Mikronetzwerke entsteht eine erste Verbreitungswelle. Oftmals spielt der Zufall hier eine wichtige Rolle, viele kurzfristige Hypes ebben so schnell wieder ab, wie sie aufgekommen sind. Wichtig in dieser Phase ist die Distribution bzw. das Verbreiten über stark voneinander abweichenden Mikronetzwerke. Je diverser diese sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Internet-Tsunamis.
Phase 2 bezieht sich auf die ersten Online-Informationskaskaden. Ähnlich wie ein Meme oder Shitstorm kreiert sich ein erster Hype und die Verbreitung innerhalb des Internets nimmt an Geschwindigkeit deutlich zu. Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die reichweitenstarken Blogs und die sog. A-Blogger, die gut vernetzt sind und damit als Multiplikatoren und Meinungsführer eine weitere Energiezufuhr gewährleisten.
In Phase 3 vollzieht sich der erste Mediensprung von sozialen Netzwerken zu den Online-Angeboten der Leitmedien. Einzelne Online-Portale klassischer TV-, Radio- und Printformate werden auf das Thema aufmerksam. In Folge der Reichweitenstärke dieser Portale entstehen weitere Verbreitungswellen und es kommt in den meisten Fällen zu einem Dominoeffekt, dem die restlichen Nachrichtenformate folgen.
Phase 4 beschreibt den zweiten Mediensprung von Online zu Offline. Die Transformation einer Online- in eine Offline-Masse ist für die Entwicklung eines Internet-Tsunamis essentiell, denn erst die Offline-Masse stellt eine physische Verbindlichkeit zum Thema her und verleiht diesem ein gesteigertes Maß an Wichtigkeit und damit gesellschaftlicher Relevanz.
Phase 5 beschreibt den dritten Mediensprung anhand von zwei Mechanismen. Erstens findet eine Rückkopplung von Offline zu Online statt, in deren Rahmen Offline-Geschehnisse (z. B. Proteste) dokumentiert und online verfügbar gemacht werden. Zweitens kommt es zu einer Durchdringung der Leitmedien. Damit ist ein Thema auf der öffentlichen Agenda angekommen. Die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt den Druck, das Thema auf die politische Agenda zu nehmen.
Kernmerkmale und der Umgang mit Internet-Tsunamis
- Internet-Tsunamis sind schwer vorhersagbar
Erstens entwickelt sich ein Internet-Tsunami nie linear, beschreibt also keine kausalmechanistische Beziehung. Dies ist auf die Beschaffenheit des Internets als ein non-lineares Medium zurückzuführen.
Zweitens ist die Ursache von Internet-Tsunamis ein Offline-Ereignis und damit außerhalb des Suchhorizonts. Erst die mediale Überführung dieses Ereignisses wird zum Auslöser. Eine Erkennung kann demnach erst erfolgen, wenn eine ausreichende Massenaktivität im Internet nachweisbar ist.
Drittens reichen die heutigen Suchsysteme nicht dazu aus, politische Meinungsimpulse im Internet und insbesondere in den sozialen Netzwerken zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten.
- Internet-Tsunamis sind nicht planbar
Die Auslösung eines Internet-Tsunamis kann nicht geplant werden. Es konnte gezeigt werden, dass Kampagnenmechanismen Einfluss nehmen können, Internet-Tsunamis jedoch nicht determinieren. Der gleiche Vorgang führt in anderen Kontexten zu völlig anderen Ergebnissen.
Oftmals spielt der Zufall eine entscheidende Rolle. Die ersten Informationskaskaden über ein Ereignis entstehen zufällig und werden oft erst nachträglich von Interessengruppen instrumentalisiert.
Internet-Tsunamis sind in hohem Maße von gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen abhängig (Klima-Faktoren). Diese können kaum beeinflusst werden und stellen daher eine gegebene Größe dar.
- Hohe Anfälligkeit für Fehlinformationen
Aus psychologischer Sicht erscheinen Online-Massenphänomene extrem anfällig für Fehlinformation und Manipulation.
Im Internet ist die Gefahr für eine Verbreitung von Fehlinformationen aufgrund der Weiterleitungsgeschwindigkeit, der Vernetzungsdichte und des Vertrauensübertrages enorm hoch.
Zusätzlich erschweren massenpsychologische Verhaltensmuster, wie z. B. die Orientierung an anderen und die Sogwirkungen, die intellektuelle Durchdringung von Inhalten, so dass Informationen innerhalb von Informationskaskaden meist ungeprüft weitergeleitet werden. (Kapitel 4.5)
- Unterdrückung wirkt kontraproduktiv
Repressive Momente führen bei Internet-Tsunamis zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit und wirken als Verstärker.
Repressionen können vielfältiger Art sein: Ein offizielles Dementi im Fall der Plagiatsaffäre zu Guttenberg, die Abschaltung technischer Infrastrukturen in Ägypten, aggressive Akte der Staatsgewalt („Pepper Spraying Cop“ oder die Ermordung Khalid Saids).
Die mediale Dokumentation und die darauf folgende Inszenierung des repressiven Akts führen zu einem Umkehren der intendierten Wirkung und damit zur einer weiteren Stärkung des Internet-Tsunamis.
- Internet-Tsunamis werden zukünftig zunehmen
Die gesellschaftliche Durchdringung des Internets wird weiter zunehmen – sowohl in Bezug auf generationsübergreifende Nutzung als auch Anwendungsbereiche. Dies steigert auch die Wahrscheinlichkeit von Internet-Tsunamis.