6.1 Die Wirkungen von Internet-Tsunamis auf den Politikprozess

Für die politische Bewertung der untersuchten Phänomene ist die entscheidende Frage, welche Auswirkung bzw. welchen Einfluss die Massenmobilisierung über das Internet und die sozialen Medien, sog. Internet-Tsunamis, auf den Politikprozess haben. Die Grundlage der Bewertung sind die geführten Interviews mit Politikern und politiknahen Akteuren (Kapitel 2), die Fallstudien (Kapitel 3) und die interdiziplinären Analysen der Kapitel 4 und 5.

Bevor eine Bewertung vorgenommen werden kann, muss definitorische Klarheit über die verwendeten Begriffe hergestellt werden, d. h. es werden die Begriffe und Konzepte von Politik, Politikprozess und politischen Massen genauer bestimmt.

Politische Massen

Politische Massen sind ein Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern, die ihren politischen Willen artikulieren. Das Hauptaugenmerk dieser Untersuchung liegt auf politischen Massen, die mit der aktuellen politischen Lage bzw. den politischen Entscheidungen unzufrieden sind.
Das Ziel ist es, Aufmerksamkeit auf alternative Politikforderungen zu lenken, denn politische Massenbewegungen besitzen keine institutionalisierte Macht oder Plattform. Ihr Druckmittel ist die Anzahl der Beteiligten und die Entschlossenheit, mit der diese für ihre Belange eintreten.
Ein probates Mittel ist dabei der kollektive Protest, über den eine breitere Öffentlichkeit zur Anteilnahme und Zustimmung gebracht werden soll.[1]

Der wissenschaftliche Diskurs über politische Massen wird maßgeblich von zwei Forschungsrichtungen dominiert. Die erste basiert auf dem „klassischen“ massenpsychologischen Ansatz von Gustave Le Bon und Gabriel Tarde. Diese gehen von affektgeleiteten sowie von externen Reizen hochgradig abhängigen Menschenmassen aus.
In abgeschwächter Form wurde dieser Ansatz im Contagion Approach (Ansteckungsansatz) weitergeführt. Der zweite Ansatz vernachlässigt die Rolle von spontanen Gefühlen und Affekthandlungen und geht eher von einer organisierten Mobilisierung aus. „Mobilisierung umfasst dingliche Aspekte, etwa Geld und infrastrukturelle Mittel, aber auch immaterielle Vorgänge der Motivierung, Problemdeutung und Überzeugungsarbeit, in denen affektive, kognitive und evaluative Momente zusammenwirken. Diesen letztgenannten Aspekten hat sich vor allem der Forschungsansatz des Framing zugewandt.“[2]

In den letzten Jahren entstand ein deutlicher Trend in Richtung Protest- und Bewegungsgesellschaft. Politische Impulse werden nicht mehr nur durch etablierte Institutionen wie Parteien, Parlamente und Regierungen gesetzt, sondern gehen in zunehmendem Maße auch von eben jenen politischen Massen aus. [3]

Politik

Der deutsche Politikbegriff wird mehrdimensional genutzt. In der Politikwissenschaft werden daher drei Dimensionen von Politik unterschieden: Polity, Politics und Policy. Polity bezieht sich auf die institutionelle Dimension, zum Beispiel die Verfassung, Grundrechte, Normen und Werte aber auch das Parlament und die staatlichen Organe. Polity bildet somit den Handlungsrahmen. Politics beschreibt die prozessuale Dimension. Es geht um demokratische Aushandlungsprozesse, wie den Interessenausgleich, die Willensbildung und die Konsensfindung. Policy steht für die inhaltliche Dimension der Politik. Dabei geht es um die Gesamtheit eines politischen Themenfelds sog. Politikfelder wie Gesundheitspolitik, Umweltpolitik, Verkehrspolitik, etc. [4]

Rohe formuliert hierfür zusammenfassend, „dass Politik die Verwirklichung von Politik – policy – mit Hilfe von Politik – politics – auf der Grundlage von Politik – polity – ist.“[5] Das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen beschreibt den Politikverfertigungsprozess oder kurz Politikprozess.

Politikprozess oder Policy-Making

Der Politikprozess wird in der modernen Politikwissenschaft als Policy-Making bezeichnet.
Es geht dabei um den Verarbeitungsprozess gesellschaftlicher Probleme und Forderungen durch die Politik. Bedient man sich eines einfachen Input-Output-Modells, dann versteht sich das politische System als Subsystem des Gesamtsystems Gesellschaft. Im Mittelpunkt der Aktivitäten des politischen Systems steht die Sicherung seines Bestandes. Es kann zwischen dem Input durch den Bürger bzw. das Gesellschaftssystems und dem Output des politischen Systems unterschieden werden (Abbildung 6‑1). Beim Input handelt es sich zum einen um Aufforderungen zur Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme und zum anderen um legitimatorische Unterstützung, wie dies z. B. bei Wahlen der Fall ist. Im politischen System werden die Forderungen nach Problemlösungen verarbeitet und politisch entschieden. Der Output entschiedener Programme wird als Gesetz implementiert. Wurden die Probleme für die Gesellschaft zufriedenstellend bearbeitet, steigt wiederum die Unterstützung für das politische System (Feedback) und der Kreislauf schließt sich.

Hier ist erkennbar, dass politische Massen Forderungen an das politische System artikulieren bzw. durch ihren Protest einen Schwund an Unterstützung sichtbar machen. Der Einfluss der Öffentlichkeit liegt also hier insbesondere auf der Input-Seite. Man könnte sogar sagen, Internet-Tsunamis haben eine unmittelbare Feedback-Funktion für das politische System.

Abbildung 6‑1: Policy-Making frei nach David Easton [6]

Es lohnt sich die Artikulation der Forderungen bzw. die Problemverarbeitung auf der Inputseite etwas genauer zu betrachten. Dazu wird ein dynamisches Policy-Making-Modell verwendet, das Policy-Zyklus-Modell. [7] Es beschreibt den Policy-Making-Prozess als einen Zyklus von vier Phasen (siehe Abbildung 6‑2).

Abbildung 6‑2: Policy-Zyklus

Phase 1: Initiierung oder Agenda-Setting

Der Policy-Zyklus beginnt beim Agenda-Setting, die öffentliche Aufmerksamkeit wird auf ein spezifisches gesellschaftliches Problem oder Problemfeld gelenkt. Es kann dabei zwischen der öffentlichen Agenda (public agenda), der politischen Agenda (governmental agenda) und der Entscheidungsagenda (decision agenda) unterschieden werden. Erstere gibt die öffentliche Meinung und das politische Klima zu einem Thema wieder. Die zweite beschreibt, ob sich politische Entscheidungsträger in Parlament und Regierung ernsthaft mit einen Thema auseinandersetzen. Die dritte ist eine Untermenge von zwei. Das sind die Themen, die es auf die politische Tagesordnung geschafft haben und zur Entscheidung stehen.[8]

Phase 2: Formulierung

In der zweiten Phase, der Formulierungsphase, nehmen sich politische Entscheidungsträger im Parlament oder der Ministerialbürokratie des Problems an. Es geht um konkrete Lösungskonzepte. Gesetzentwürfe, Richtlinien oder Programme werden entwickelt und diskutiert, um das aufgeworfene Problem zu adressieren.[9]

Phase 3: Implementierung

In der dritten Phase, der Implementierung, werden Gesetzesentwürfe verabschiedet und weiterverarbeitet. Regierungs- und Verwaltungsinstitutionen setzten die verabschiedeten Gesetze in Richtlinien und Verordnungen um und implementieren diese mittels Ausschreibungen, Aufträgen, Verwaltungsakten etc.[10]

Phase 4: Evaluation

Die vierte und letzte Phase beschreibt die Evaluation. Policy-Analysten innerhalb und außerhalb der Regierung untersuchen den Erfolg bzw. die Wirkung der implementierten Programme und verabschiedeten Gesetze. Es wird dabei ermittelt, ob das adressierte Problemfeld Verbesserung erfahren hat oder nicht. Im Falle einer negativen Rückkopplung kommt das Problem erneut auf die Agenda.[11]

Es zeigt sich hier, dass gerade in der ersten Phase (Initiierung) durch Internet-Tsunamis gravierende Veränderungen zu beobachten sind. Internet-Tsunamis schaffen es, Themen auf die öffentliche Agenda zu bringen. In einem Anfangsstadium mag dies nur für eine Internet‑Öffentlichkeit gelten, aber spätestens im Endstadium, also im Zuge einer Durchdringung der Offline-Leitmedien, ist ein Thema weit oben auf der öffentlichen Agenda angelangt. Der dadurch entstehende mediale Druck schafft dann die Möglichkeit, das Thema auch auf die politische Agenda zu bringen. Wie dieser Prozess genau vonstattengeht und welcher Einfluss dieser auf politische Entscheidungen hat, soll im Weiteren genauer erläutert werden.

Agenda-Setting und Windows of Opportunity

Um genauer beschreiben zu können, wie Internet-Tsunamis die öffentliche und politische Agenda beeinflussen, wird hier das Policy-Window-Modell von Kingdon [12] vorgestellt.
Beim Policy-Window-Modell lassen sich drei unabhängige Ströme unterscheiden, die durch das politische System fließen und bei deren Kopplung die politische Agenda setzen. In Folge dessen können potenziell politische Entscheidungen folgen.

Der erste Strom – der Problemstrom – beinhaltet Probleme und Problemstellungen. Warum beschäftigen sich politische Entscheidungsträger mit bestimmten Fragestellungen und mit anderen nicht? Die Antwort liegt in der Art und Weise wie das politische System und seine Entscheidungsträger auf problembehaftete Bereiche aufmerksam werden. Teilweise sind vorliegende Kennzahlen bzw. Indikatoren, wie Unfallzahlen, Arbeitslosenzahlen, Schulabbruchquoten, Kosten eines Programms oder ähnliches die Auslöser. Eine zweite Möglichkeit sind dramatische Ereignisse und Krisen. Zum Beispiel führte die Reaktorkatastrophe in Fukushima, zu einer 360-Grad-Wende in der deutschen Energiepolitik. Die dritte Möglichkeit sind Rückmeldungen bzw. Evaluationen von bereits implementierten Programmen. Welche Problemstellungen genau in Angriff genommen werden, ist oftmals abhängig von einer Kombination persönlicher Ausrichtungen, Partei- und Regierungsprogrammen sowie Koalitionsverträgen.[13]

Der zweite Strom, der sog. Policy-Strom, gleicht einer „Ursuppe“ an Ideen, Konzepten und Problemlösungen. Diese werden oftmals in Form von Gesetzesentwürfen, Strategiepapieren, Reden oder in Konversationen und Anhörungen durch Regierungs- und Ministeriumsmitarbeiter, wissenschaftliche Angestellte, Forscher, Berater und Denkfabriken angefertigt bzw. verbreitet. Die Anzahl an Ideen und Konzepten ist groß, nur wenige finden Eingang in den engeren Entscheidungsprozess. Die Auswahl erfolgt anhand von Kriterien wie politischer Machbarkeit und Eignung. Die meisten Ideen und Konzepte verschwinden schnell wieder in Schubladen, aus denen sie aber je nach Lage und Bedarf wieder herausgeholt werden können.[14]

Der dritte und letzte Strom ist der Politik-Strom (Akteure und Ereignisse). Dieser besteht zum einen aus der nationalen Stimmung, die anzeigt, welche Themen gerade als wichtig erachtet werden. Aktuelle Meinungsumfragen und Trendanalysen spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle, wie auch die Berichterstattung in den Leitmedien. Zweitens haben Lobbytätigkeiten von Interessensgruppen erheblichen Einfluss darauf, welche Themen aktuell verhandelt werden sollen. Und drittens, beeinflussen personelle Wechsel und Veränderungen in Regierung und Verwaltung das Policy-Making. Wird ein Posten neu vergeben, so besteht beim „Neuling“ meist der Handlungsdruck, sich von seinem Vorgänger durch eigene Initiativen abzugrenzen. Dies öffnet die Tore für neue Politikinhalte.[15]

Die meist getrennt verlaufenden Ströme können sich zu bestimmten kritischen Zeiten verbinden. Ein sog. Window of Opportunity (ein Gelegenheitsfenster) öffnet die Möglichkeit zur Kopplung von bestimmten Problemstellungen mit Lösungsvorschlägen, durch neue Akteure oder auf Grund aktueller Ereignisse. Dann wird die politische Agenda durch die mögliche Kopplung der drei Ströme gesetzt und öffnet ein Policy-Window (siehe Abbildung 6‑3). Ein Policy-Window gibt Vertretern bestimmter Interessen die Möglichkeit, ihre Konzepte und Ideen als Lösungsvorschläge ins Gespräch zu bringen. Oder sie können auf ihre Probleme und Problemstellungen aufmerksam machen. Policy-Windows schaffen die Möglichkeit ein Thema auf die politische Entscheidungsagenda zu bringen. Allerdings bleiben diese nicht lange geöffnet. Wird der Augenblick verpasst, schließt sich das Fenster wieder und der Vorschlag verschwindet von der Entscheidungsagenda. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann auf ein neues Problem, andere Gesetzesvorschläge oder neue Akteure mit anderen Aufmerksamkeitsfeldern betreten das Spielfeld.[16]

Abbildung 6‑3: Policy-Window-Modell [17]

Nach Kingdon gibt es zwei Möglichkeiten, wie die Kopplung der unabhängigen Ströme initiiert wird. Ein Policy-Window öffnet sich entweder aus dem Problem-Strom, wenn eine akute Problemstellung auf Lösung drängt oder durch Ergeinisse bzw. Veränderungen im Politik-Strom. Dementsprechend unterscheidet er zwischen Problemfenstern (problem windows) und Politikfenstern (political windows).[18]

Auf Basis dieses Modells wird deutlich, dass über Internet-Tsunamis mobilisierte politische Massen Einfluss sowohl auf den Problem-Strom als auch den Politik-Strom nehmen können. Es besteht dadurch die Möglichkeit ein Policy-Window zu öffnen.

Ein Problemfenster öffnet sich, in dem politische Massen auf ein Problem aufmerksam machen. Bei entsprechender Größe und Dauer von Protesten können diese ein Thema erst auf die öffentliche Agenda (breite Medienberichterstattung) und dann auf die politische Agenda pushen. Den inherent größten Einfluss haben Internet-Tsunamis aber auf den Politik-Strom, gerade hier werden eingeübte Herangehensweisen und Prozesse auf die Probe gestellt. Über mobilisierte politische Massen soll der Eindruck entstehen, dass diese die allgemeine nationale Stimmungslage wiederspiegeln. Ein gutes Beispiel liefert hierfür die Aussage eines interviewten Politikers aus Kapitel 3, der über den Volksentscheid zu Stuttgart 21 meinte: „laut meiner Twitter-Timeline hätte die Abstimmung zu Stuttgart 21 unmöglich positiv ausfallen können“[19]. Es zeigt sich hier, dass die politische Masse der Stuttgart-21-Gegner es geschafft hat, die Deutungshoheit zu erlangen. Dadurch wurde der Eindruck vermittelt (mindestens bei diesem Politiker), die nationale, in diesem Zusammenhang eher lokale, Stimmung, sei gegen das Bauprojekt. Auf die möglicherweise manipulativen Aspekte sowie die Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung wurde schon in Kapitel 3.5 hingewiesen. Dort wurde aufgezeigt, dass sich Menschenmassen eben meist nicht spontan und zufällig zusammenschließen, sondern bewusst aktiviert werden. Die genaue Wirkungsweise bzw. die verwendeten Methoden und Instrumente wurden in Kapitel 5.1 unter dem Begriff Social Campaigning genauer untersucht. Gezeigt wurde, dass politische Massen durch die gezielte und strategische Platzierung von Themen für gut organisierte Partikularinteressen instrumentalisiert werden können. Dennoch sollte von Steuerungsphantasien und Verschwörungstheorien Abstand genommen werden. Obwohl in Retrospektive durch Kampagnenstrukturen oftmals initial Einfluss genommen wurde, sind deren (Miss-)Erfolg prospektiv kaum planbar. Die Netzwerkarchitektur des Internets und dessen Beschaffenheit als nichtlineares Mediensystem begünstigt Selbstaufschauklungseffekte und erleichtert eine Mobilisierung, macht diese aber auch umso unberechenbarer.[20] Impulse können oftmals das genaue Gegenteil der intendierten Wirkung bewirken. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte beschreibt die Unberechenbarkeit von politischen Massen im Zusammenhang mit der Mobilisierung durch das Internet treffend:

„Eine digitale Demokratie lebt mit neuen Spielregeln politischer Öffentlichkeit. Die Online-Öffentlichkeit ist strukturlos und nicht steuerbar. Die heutige Politik hat es mit einer sich herausbildenden Netzwerkgesellschaft zu tun, in der Interaktion in veränderten Formaten stattfindet. Kommunikative Schwärme bilden sich plötzlich und sind ohne erkennbare Anführer – ganz im Gegensatz zu politischen Bewegungen in Zeiten der analogen Demokratie.“[21]

Internet-Tsunamis können also als ein Koppler der Ströme fungieren. Dabei kann die Kopplung sowohl aus dem Problem-Strom also auch aus dem Politik-Strom heraus initiiert werden. Am Wirkungsvollsten könnte sogar eine Kombination von beidem sein.

(1) Für politische Entscheider in Parlament und Verwaltung bedeutet dies, politische Entscheidungen werden nicht mehr nur einfach hingenommen, unabhängig davon ob sie demokratisch legitimiert sind. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich politische Massen zeitnah vor und nach politischen Entscheidungen formieren und lautstark, gemessen an Teilnehmerzahl und Medienwirksamkeit, ihre Positionen und Meinungen proklamieren.

(2) Grundsätzlich wird in zunehmendem Maß mit politischen Protesten, ob online, offline oder in der Kombination beider (Internet-Tsunami) zu rechnen sein. Die politische Beteiligungskultur verändert sich und die Gesellschaft wandelt sich hin zu einer agilen und themenbezogenen Protest- und Bewegungsgesellschaft.

„Auch wenn die besondere Ereignisdichte und der beeindruckende Veränderungsschwung des Protestjahres 2011 stark an jene rebellischen Hochzeiten erinnern, die mit der Jahreszahl 1968 verbunden werden, liegen die Protestereignisse des vergangenen Jahres in einem längerfristigen Trend, der in Richtung Protest- und Bewegungsgesellschaften weist. Gemeint ist damit, dass sich im politischen Raum neben und teilweise gegen die dominierenden Institutionen (wie etwa Parteien, Parlamente, Regierungen) ein meist bunter Bewegungssektor etablieren konnte, von dem wichtige politische Impulse ausgehen.“[22]

(3) Es zeigt sich, dass ein einzelner Bürger, Gruppierungen von Bürgern und kleinere Interessenverbände heute die Möglichkeit haben, die öffentliche und die politische Agenda im Selbstauftrag mitzubestimmen. Die Nivellierung der Produktions- und Publikationsmittel stärkt heute die vermeintlich Ressourcenschwächeren. Dies führt zu einer gestiegenen Anzahl an potenziellen Agenda-Settern – in einem weit größeren Ausmaß, als dies noch vor fünf bis zehn Jahren der Fall war. Ob sich die neuen Agenda-Setter gegen ressourcenstärkere Lobbys durchsetzen können bleibt allerdings abzuwarten, denn auch diesen stehen die gleichen Intrumente zur Mobilisierung zur Verfügung.

(4) Die Verschiebung von Macht und Einflussmöglichkeit auf die Seite der Nutzer (Prosumer), verdeckt allerdings das Entstehen neuer Machtzentren. In der Vertikalen der Internet-Infrastruktur entstehen Kontrollpunkte bei Providern und Serviceanbietern, an denen das Wissen über einzelne Nutzer und Nutzergruppen in Echtzeit abgeschöpft werden kann. Mit diesem Wissen kann im Geheimen Einfluss auf gesellschaftliche und damit auch politische Prozesse genommen werden. Wer im Internet beeinflussen kann, ist damit ein mächtiger „Player“ im Politikspiel.[23]

(5) Internet-Tsunamis wirken sich auf alle drei Politik-Dimensionen aus. Sie beeinflussen die Strukturen (Polity), wie zum Beispiel die Rücktritte von Guttenberg oder Wulff zeigen. Die Prozessdimension (Politics) verändert sich, indem das Konsensversprechen der Demokratie ausgehebelt wird (Stuttgart 21). Entscheidungen der politischen Repräsentanten werden nicht mehr bedingungslos, bis zur nächsten Wahl akzeptiert. Auf der inhaltlichen Politikebene (Policy) werden Impulse gesetzt, bestimmte Inhalte aufzunehmen oder in einer bevorzugten Weise zu verarbeiten (ACTA).

Es konnte gezeigt werden, dass Internet-Tsunamis einen unmittelbaren Einfluss auf den Politikprozess haben. Im folgenden Kapitel werden die mittel- bis langfristigen Folgen auf Politik und die politische Kultur ausgeführt.

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[1] Rucht, Dieter, 11.06.2012: Massen mobilisieren. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 25-26/2012), Protest und Beteiligung. (27.06.2012)

[2] ebd.: S. 4 – 5

[3] vergl. Roth, Roland 2012: Occupy und Acampada: Vorboten einer neuen Protestgeneration? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 25-26/2012): Protest und Beteiligung. Online. (28.06.2012)

[4] vergl. Jann, Werner und Wegrich, Kai 2003: Phasenmodelle und Politikprozesse: Der Policy Cicle. In: Bandelow und Schubert (Hg.) 2003: S. 72

[5] Rohe, Karl 1994: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. 2. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer: S. 64

[6] vergl. Easton, David 1965: A Systems Analysis of Political Life. New York: John Wiley & Sons

[7] In der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Policy-Zyklus-Modelle, die je nach Autor etwas divergieren. Eine Übersicht findet man unter: Jann und Wegrich 2003: Phasenmodelle und Politikprozesse: Der Policy Cicle. S. 71 – 105

[8] vergl. ebd.: S. 83 – 85

[9] vergl. ebd.: S. 85 – 89

[10] vergl. ebd.: S. 89 – 92

[11] vergl. ebd.: S. 92 – 94

[12] vergl. Kingdon, John W. 1995: Agendas, Alternatives and Public Policies. 2nd Edition, New York: Addison-Wesley Longman

[13] vergl. ebd.: S. 90 – 115

[14] vergl. ebd.: S. 116 – 144

[15] vergl. ebd.: S. 145 – 164

[16] vergl. ebd.: S. 165 – 178

[17] Abbildung nach: Burth, Hans-Peter und Görlitz, Axel 1998: Politische Steuerung: Ein Studienbuch. 2. Auflage. Opladen: Leske + Budrich, S. 155

[18] vergl. Kingdon 1995: S. 173 f.

[19] Interview 44

[20] vergl. hierzu die Ausführungen von Peter Kruse in: Blog What’s Next? (Reinhard, Ulrike) 2010: Ist die Nutzung des Internets eine Glaubensfrage?

[21] Korte, Karl-Rudolf 06.02.2012: Beschleunigte Demokratie: Entscheidungsstress als Regelfall. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ 7/2012), Digitale Demokratie, Online. (27.06.2012)

[22] Roth, Roland 11.06.2012: Occupy und Acampada: Vorboten einer neuen Protestgeneration

[23] Stadler, Felix 2012: Selbermachen statt teilnehmen. In: Apprich, Clemens und Stadler, Felix (Hg.) 2012: Vergessene Zukunft – Radikale Netzkulturen in Europa, Bielefeld: transcript Verlag, S. 224