Wir haben in diesem Abschnitt einen langen Weg abgezeichnet. Von Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bis hin zur Moderne und der „Realität der Massenmedien“, wie sie Niklas Luhmann formulierte. Dabei haben wir zwei Konzepte angesprochen, die in der Vergangenheit maßgeblich unser Verständnis von Gesellschaft geprägt haben. Und auch in der heutigen, schnelllebigen Welt, müssen wir diese Konzepte heranziehen um evolutionäre Prozesse in der Gesellschaft zu verorten. Dass dies keineswegs leicht ist, haben wir spätestens bei der systemtheoretischen Analyse feststellen müssen. Dennoch plädieren wir dafür, die Systemtheorie bei weiteren Untersuchungen nicht zu vernachlässigen. Die Identifizierung von binären Codes im System des WWW, muss weiter vorangetrieben werden. Denn wenn wir ehrlich sind, wissen wir leider zu wenig über gesellschaftliche Vorgänge im Zeitalter der Bits und Bytes. Und das, obwohl wir die Auswirkungen tagtäglich spüren. Der Organisationssoziologe Peter Kruse unterstützt die These eines gesellschaftlichen Wandels, initiiert durch neue Kommunikationsmittel:
„Wir erleben eine grundlegende Änderung der weltweiten Kommunikationssysteme. In den 90er Jahren hatten wir vor allem die Vernetzungsdichte in der Welt erhöht, uns daran berauscht, Zugang zu immer mehr Informationen und Kontakt zu immer mehr Menschen zu erhalten. Dem folgte eine sprunghafte Zunahme der Bereitschaft, sich selbst mit vielfältigen Beiträgen im Netz einzubringen. Der “Zugangs-Boom” mündete im ‚Beteiligungs Boom‘.
Jetzt hat mit den sozialen Netzwerken des Web 2.0 die Spontanaktivität im Internet dramatisch zugenommen. Millionen wollen eigene Spuren im Netz hinterlassen und selbst etwas verändern. Im Internet bildet sich ein Interaktionsraum, in dem aus dem Stand heraus neue Koalitionen aktivierbar werden. Gruppierungen und Szenen werden immer dichter miteinander verkoppelt. In Deutschland haben Schnelligkeit und Intensität, mit der sich die Stuttgart-21-Gegner organisiert haben, gezeigt, welche Wirkungen so möglich werden.“[1]
Ähnlich sieht es der Journalist und Professor Jeff Jarvis:
„Wir durchlaufen eine gewaltige Veränderung. Ich weiß auch noch nicht, wie groß sie sein und wie lange sie dauern wird. Es dauerte etwa hundert Jahre, bis man die Auswirkungen des Buchdrucks wirklich spüren konnte. Stellen Sie sich vor, es wäre 1472, und Sie sollten mir glauben, dass diese Erfindung die katholische Kirche entmachtet, eine wissenschaftliche Revolution auslöst und die Bildung auf den Kopf stellt. Sie würden sagen: Blödsinn.“[2]
Auch staatliche Institutionen beginnen das Internet als Spiegel der Gesellschaft zu sehen. So wurde am 23.08.2011 eine Ausschreibung der IARPA [3], einer geheimdienstlichen Forschungseinrichtung, veröffentlicht. Diese will Methoden entwickeln, um aus öffentlich zugänglichen Daten aus möglichst vielen Quellen kommende Unruhen, Wirtschaftskrisen oder politische Krisen antizipieren zu können.[4] Diese „öffentlich zugängliche Daten“ können, laut IARPA, z. B. Suchanfragen im Internet, Blogs, Mikroblogs, Internetverkehr, Finanzmärkte, Verkehrskameras, Einträge in Wikipedia und vieles andere darstellen.[5] Dieser durchaus vermessene Versuch einer Art „Zukunftsdeutung“ untermauert die hier getätigten Thesen: Das Internet scheint immer weiter zu einem System zu wachsen, welches direkten Einfluss auf die politische Ebene nehmen kann.
Kommunikation findet zunehmend in diesem Raum statt und obwohl es in jeder Phase des Alltags spürbar ist, können wir die direkten Auswirkungen nicht in gesellschaftstheoretische Konzepte überführen. Eine Einschätzung lässt sich jedoch treffen. Das Netz konkurriert zunehmend mit dem System der Massenmedien, indem es breitere gesellschaftliche Diskurse zulässt. Und genau hier geraten wir in ein Dilemma: Einerseits scheint es in diesem aufzugehen, andererseits scheinen sich die Strukturen durch den Rückkanal des Nutzes deutlich zu unterscheiden. Dieser Punkt führt zwangsläufig zu dem Fazit, dass das WWW in seiner heutigen Form nicht dem System der Massenmedien zugerechnet werden kann. Gerade diesen Rückkanal hat Luhmann in „die Realität der Massenmedien“ ausgeschlossen. Somit würde es im Umkehrschluss bedeuten, dass entweder das WWW ein wildes Becken verschiedener Funktionssysteme darstellt, oder, und das zeigt das Beispiel der Internet-Tsunami, sich die Kommunikationsweisen in der modernen Welt grundsätzlich ändern. Der Internet-Tsunami muss damit als Indikator gefasst werden. Ein Indikator der aufzeigt, dass grundsätzlich jede Handlung im WWW politische Auswirkungen hervorrufen kann, für die keine Zugehörigkeit in Parteien, NGOs oder sonstigen Vereinigungen notwendig ist. Vielmehr werden sich Menschen in Netzwerken bewegen und maßgeblich von den technischen Möglichkeiten beeinflusst werden.
Wie die zahlreichen Beispiele von Internet-Tsunamis in dieser Studie zeigen, wird es zunehmend komplizierter, die gewohnten Konzepte und Denkrichtungen herkömmlicher Betrachtung von Medien und (politischer) Öffentlichkeit direkt in die heutige Zeit zu übertragen. Hier soll gezeigt werden, dass eine neue Form der Konstruktion von Öffentlicher Meinung vorliegt, deren Spielregeln, Aushandlungsprozesse und Untiefen noch lange nicht feststehen. So wie im 18. Jahrhundert die Politisierung des Alltags die Welt zunächst schleichend aber nicht weniger radikal veränderte, geschieht dies heute zunehmend über die sozialen Aspekte und Implikationen der Internetnutzung.
Die Generation der Digital Natives wird absehbar andere Kommunikationskanäle präferieren als es die Offline-Generationen zuvor taten. Hierdurch sehen wir uns jedoch einem Problem ausgesetzt. Denn wie bereits skizziert wurde, führt die Informationsbeschaffung hauptsächlich über Dienste, denen man zunächst überhaupt keine bedeutsame politisierende Position zuschreibt. Zunächst müssen Unternehmen wie Google, Facebook, Twitter etc. allesamt nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten und sind damit prioritär nicht am Gemeinwohl orientiert. Daraus könnten sich in Zukunft Schwierigkeiten für die noch junge gesellschaftliche Entwicklung des Internets ergeben. So sieht es auch der Soziologe Gerhard Schulze:
„Das Internet ermöglicht diesen Diskurs, es erzwingt ihn aber nicht. Und es birgt in sich auch die Gefahr einer neuen Perversion dieses Diskurses, da es viele Manipulationsmöglichkeiten beinhaltet. Man kann zum Beispiel mit Twitter eine Gefolgschaft aus dem Nichts herbeizaubern. Oder Firmen und politische Organisationen können sich private Datenspuren für ihre eigenen Zwecke aneignen – etwa in Form von Werbung.“[6]
Da sich bisher rechtliche Konsequenzen für diese Unternehmen in Grenzen halten, wird die Informationsbeschaffung im Internet zunehmend auf deren „Gutmütigkeit“ angewiesen sein, wenn nicht Systeme geschaffen werden, die eine unabhängige Bewertung von öffentlichen Schwerpunkten bieten. Bei Ariane Windhorst finden wir eine ähnliche These:
„Am Beispiel des amerikanischen Suchmaschinenbetreibers „Google“ kann man erkennen, wie die beschränkt die grenzenlose Freiheit des Internets ist. Erstens unterliegt Google als Wirtschaftsunternehmen ökonomischen Sachzwängen, zweitens sieht man am Beispiel Chinas, dass der Konzern undemokratischen Restriktionen durch Ländergesetze, an die er gebunden ist, gehorchen muss. Drittens ist der Dienst darüber hinaus höchst anfällig für technische Manipulationen mit dem Ziel weltweiter Zensur. Viertens steht Google als Informationssammler erster Güte in dem Ruf, bei der Veränderung seiner Vorzeichen von ‚don‘t be evil‘ (Firmenmotto) zu ‚be evil‘ leicht der ‚Große Big Brother‘ von einem Format werden kann, von dem Stasi und Gestapo nur träumen konnten.“[7]
Die wesentliche Erkenntnis an dieser Stelle der Betrachtung ist, dass diese Gefahren nicht zwingend zu einer Orwell’schen Welt führen müssen. Allerdings zeigen sie auf, dass neue „Meinungsmonopolisten“ aufkommen und gesellschaftlich empfundene Realtiät ausbilden können, z. B. bei der Suche nach Informationen über Google. Auch dies ist ein stiller und schleichender Prozess, der nur in besonderen Fällen, wie z. B. um die Diskussion der „Autocomplete“- Funktion in der Suchmaske von Google deutlich wird. Dass Google dabei sich verändernde Positionen einnimmt, hat die letzte Revision der AGB`s eindrucksvoll bewiesen. Jahrelang betonte Google, dass es nicht an einer Zusammenführung der Daten ihrer Nutzer interessiert seien. Zuvor wurden z. B. Nutzerdaten von YouTube nicht automatisch mit Google-Mail-Konten verknüpft.[8] Im Kontext von Internet-Tsunamis und auch von sogenannten Shitstorms bilden Verknüpfungen von Suche und Mitgliedschaften in sozialen Netzwerken wie Facebook gleichsam Knotenpunkte, die besondere nicht gekannte Hebelwirkungen entfalten.
In Bezug auf Deutungs- und Inhaltsmacht mag ein Blick auf Dienste wie Amazon ausreichen, deren E-Books, laut AGB, nur Lizenzen darstellen und die von Amazon ohne Vorwarnung des Nutzers gelöscht werden können. Auch hier müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Manipulation von Öffentlichkeit verhindern können und gleichzeitig das Geschäftsmodell der jeweiligen Dienste schützen. Bei den klassischen Printmedien versucht der Presserat die Einhaltung der ethischen Grundwerte zu überwachen. Im Internet scheint die Lage unlgleich schwieriger, da ein Unternehmen nicht ohne Weiteres gezwungen werden kann, moralische Grundwerte z. B. für die Erhaltung einer neutralen Nachrichtensuche tatsächlich einzuhalten.
Eine der besonderen Chancen bieten hier die zivilgesellschaftlichen Ansätze von Netzaktiven, die Werkzeuge und Institutionen schaffen, die ein bürgerliches Selbstbewusstsein fördern, um eine breite Öffentlichkeit wahrscheinlicher zu machen.
Aus wissenschaftlicher Sicht deutet sich eine Weiterentwicklung des Themas Internet-Tsunamis im Sinne einer Weiterentwicklung des Themas Öffentlichkeit 2.0 an. Die hier gewählte Verschrankung mit der Systemtheorie soll weiterer Theoriebildung im Sinne systemtheoretischen Betrachtens nach Luhmann dienen. Mit der phänomenologischen Betrachtung soll hier ein Denkansatz aufgezeigt werden, der weitere nach sich ziehen wird und einen evolutionären politischen Lern- und Reflektionsprozess theoretisch zu rahmen sucht.
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[1] Kruse, Peter 2011: Interview mit dem Deutschen Stifterverband: Wie verändern die neuen Medien die gesellschaftliche Wirklichkeit? (10.06.2012)
[2] NEON Online (Schwenke Philipp) 13.01.2012: Mal ganz offen: Partyfotos, Kundendaten, Street View: Das digitale Zeitalter löst die Privatsphäre auf. Der US-Professor Jeff Jarvis findet das völlig in Ordnung. (10.06.2012)
[3] Intelligence Advanced Research Projects Activity
[4] heise online (Rötzer, Florian) 08.09.2011: Wie erkennt man zukünftige Ereignisse? (10.06.2012)
[5] IARPA 23.08.2011: Open Source Indicators (OSI) Program Broad Agency Announcement. (10.06.2012)
[6] Goethe Institut (Reinle, Dominik) 2012: Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0? – Antworten von Gerhard Schulze. (01.11.2012)
[7] Windhorst 2009: S. 288.
[8] Der SPIEGEL (Reißmann, Ole) 03.02.2012: Daten-Verknüpfung. Google wartet nicht auf Datenschützer. (01.11.12)