5.1 Einordnung des Phänomens – Eine soziologische Betrachtung

Im ersten Abschnitt der Studie wurden die Auswirkungen von digitalen Technologien auf gesellschaftliche Ereignisse skizziert. Der Arabische Frühling, die Debatten um die Plagiatsvorwürfe gegen Karl-Theodor zu Guttenberg und der scheinbare Siegeszug von sozialen Medien im World Wide Web werfen Fragen auf, denen sich die Sozialwissenschaften stellen müssen. Dies ist in der Vergangenheit nur bedingt geschehen. Mitte der 1990er Jahre konnte man einen rasanten Anstieg von theoretischen Entwürfen beobachten. Es stellte sich die Frage, welche Rolle der Computer in einer zukünftigen Gesellschaft einnehmen könnte? Soziologen, Politologen, Philosophen und viele andere versuchten den Computer als eine radikale Maschine zu beschreiben, die geltende gesellschaftliche Mechanismen außer Kraft setzen würde. Die Untersuchungen kamen jedoch häufig zu dem Schluss: Das Internet ist ein Medium der Exklusion, da Teilnahmevoraussetzungen zu hoch erschienen.[1] Die Anschaffung von Computern, Netzwerkanschlüssen oder Mobiltelefonen, war für große Teile der Bevölkerung nicht möglich. Des Weiteren schienen auch die eingesetzten Dienste nicht erfolgsversprechend. Internet Relay Chats und E-Mails bargen nur wenig revolutionäres Potential. Die Zeit war scheinbar noch nicht reif.

2012 befinden wir uns in einer grundlegend veränderten Situation. Mit dem Aufkommen von sozialen Netzwerken, günstigen Computern, Smartphones und Netzanschlüssen wurde die gesellschaftliche Revolution scheinbar begonnen. In Ländern wie Ägypten und Tunesien konnte das WWW die Defizite der staatsgelenkten Medien ausgleichen, indem anhand von Social Networking eigene Informationen durch die Bürger veröffentlicht wurden und so eine kritische Masse erzeugt werden konnte.

Karl-Theodor zu Guttenberg wurde die Kollaboration zum Verhängnis. Initiiert durch einen Zeitungsbeitrag, begannen Bürger auf GuttenPlag kritische Stellen in seiner Doktorarbeit zu markieren und für jeden nachvollziehbar zu visualisieren. Ein aberkannter Doktortitel und das vorzeitige Ende seiner politischen Karriere waren die Ergebnisse.

Zuletzt sorgte der öffentlich ausgetragene Streit zwischen dem Chaos Computer Club und einer Gruppe von Tatort-Autoren für Aufsehen. In einem offenen Brief kritisierten 51 Tatort-Autoren die liberalen Positionen von Grünen, Piraten, Linken und der „Netzgemeinde“ zum Copyright. Der „Netzgemeinde“ wurde vorgeworfen unter dem Deckmantel von kostenloser Partizipation an Kunst, Kultur und Medien, Urheberrechtsverletzungen zu befürworten.[2] Der CCC entgegnete, dass dies keineswegs das Interesse der sog. „Netzgemeinde“ wäre, sondern sich die Kritik vor allem gegen die großen Verwerter, wie z. B. die GEMA, richtet. Allerdings räumte sie auch ein, dass Filesharing über P2P-Börsen oder One-Klick-Hoster zu einem ernstzunehmenden Problem geworden ist.[3]

Wir können somit beobachten, dass das Internet und seine Nutzungsweisen Irritationen in dem Funktionssystem der Gesellschaft hervorrufen. Die sich ständig weiterentwickelnden technischen Möglichkeiten führen zu Spannungen zwischen dem was wir in der Soziologie mit dem Begriff „Soziale Systeme“ umschreiben.

Die neuen Nutzungsweisen stoßen nicht nur mit dem derzeitigen Recht an. Vielmehr müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Auswirkungen das Netz auf die Medien ausübt. In Gesellschaften ohne ein gefestigtes Mediensystem, wie z. B. China, ist das Internet ein mächtiger Verbündeter, das den Zugang zu Informationen ermöglicht, welche nicht die staatlichen Zensurstellen durchlaufen haben. Nicht umsonst kapselt sich die Volkrepublik China immer weiter vom internationalen Datenstrom ab und baut seine digitalen Überwachungskapazitäten weiter aus. Oder nehmen wir den Fall Ägypten. Dort sah sich der ehemalige Staatspräsident Mubarak in einer derart verzweifelten Situation, dass der gesamte Datenstrom während der Revolutionen einfach abgekapselt wurde.[4]

In der Bundesrepublik Deutschland scheint das Internet kein revolutionäres Potential vorzuweisen. Zu gefestigt wirkt unser heutiges Mediensystem. Durch den staatlichen Rundfunk, welcher als unabhängige Informationsquelle dienen soll, besteht eigentlich kein großes Interesse an einem neuen „Medium“ oder gar einer neuen Gewalt im Staate. Doch auch hier können wir an den bereits genannten Beispielen und den Untersuchungen in den ersten Kapiteln einen sozialen Wandel beobachten. Eine Forderung nach Transparenz besteht auch in westlichen Staaten. Wie sonst könnten wir den Erfolg von Projekten wie Wikileaks oder sozialen Medien wie Twitter und Facebook erklären? Es scheint, dass der Bürger zunehmend als Verfasser von Informationen in den Vordergrund drängt. Ob es nun der Post bei Facebook über ein Unternehmen mit umweltschädlichen Aktivitäten ist, eine Twitter-Meldung auf der Demonstration, die Rezension über einen neulich gekauften Fernseher oder aber ein Blog zu einem ungeliebten Bauprojekt in seiner unmittelbaren Wohnumgebung: Durch die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets ist dies alles möglich.

Trotz dieser, nahezu selbstverständlichen, Nutzung ist die Debatte über die Bedeutung des Internets für die gesellschaftlichen Funktionsmechanismen nicht in der breiten wissenschaftlichen Debatte angekommen. Diese Tatsache muss kritisch hinterfragt werden.

Bourdieu charakterisierte die Soziologie als „Störenfried der Gesellschaft“[5]. Ihre Aufgabe besteht in der Hinterfragung dessen, was als selbstverständlich und „normal“ gilt.[6] Wenn sie dies auch in der heutigen Zeit leisten soll und wir soziologische Konzepte auf das Mediensystem anwenden wollen, müssen wir nach Selke (2009) von einer Grundannahme ausgehen:

„[...] dass sich Medien und Gesellschaft in einer ständigen Wechselwirkung befinden, die weder technik- noch kulturdeterministisch gedacht werden darf. Technologische Entwicklungen und gesellschaftliche Bedürfnisse wirken in feinen, teils homöopathischen, Wechselbeziehungen aufeinander ein. Medien sind Teil der Gesellschaft und Gesellschaft ‚macht’ Medien, indem Individuen sie in Gebrauch nehmen“[7]

Wir müssen uns somit die Frage stellen, was passiert, wenn Menschen diese Medien anders in Gebrauch nehmen? Es muss hinterfragt werden, wenn Bürger zunehmend Nachrichten über Portale wie Google News lesen oder Zeitungsartikel auf Blogs kritisch untersucht werden. Und damit gelangen wir an den Punkt, in dem wir Internet-Tsunamis gesellschaftliche Relevanz zuschreiben müssen. Das bedeutet, dass wir herausstellen müssen, welche Rolle neue Medien an dem Prozess der Vergesellschaftung einnehmen.[8]

Damit wird auch ein Grundgedanke der Soziologie deutlich, der leider allzu häufig in Diskussionen über die „Netzgemeinde“ oder Vorgänge im Internet vergessen wird:

„Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist das, was wir gemeinsam erzeugen, was wir gemeinsam ‚konstruieren’.“[9]

Somit müssen wir das Internet als neuen Ort zur gesellschaftlichen Kommunikation ansehen. Einen Raum, der es ermöglicht, mit anderen in Kontakt zu treten, seine Ansichten zu teilen oder Widerstand zu leisten. Er wird von allen gesellschaftlichen Schichten geformt und gesteuert. Die oft beschriebe Trennung von Offline- und Online-Welt ist eine Illusion. Dies verdeutlichen die im Kapitel 4 getätigten Fallbeispiele.

Wir werden uns somit in diesem Teil der Studie mit einer der Grundfragen der Soziologie beschäftigen und diese auf das digitale Zeitalter anwenden: Wie ist Gesellschaft möglich? Zu diesem Zweck wird in Kapitel 7.2 anhand des Habermas’schen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ skizziert, wie sich das Mediensystem über die Jahrhunderte herausgebildet hat, bevor wir in 7.3 und 7.4 die Luhmann’sche Systemtheorie zur Erklärung der Funktionsweise von Medien heranziehen. In 7.5 wird das Wechselspiel von Internet und Medien beleuchtet und schließlich in 7.6 die Thesen zur Bedeutung der Internet-Tsunamis für das gesellschaftliche Funktionssystem herausgestellt werden. Es soll aufgezeigt werden, dass sich mit der Verortung des Phänomens Internet-Tsunamis an die Standards der Soziologie eben durch die Konkretisierung anhand der Fallbeispiele neuer Raum zur wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Themas erschließt.

zurück / weiter / Inhalt
________________

[1] vergl. Schwalm, Carola 1998: Globale Kommunikation. Der Wandel sozialer Beziehungen durch die Kommunikation in Computernetzwerken. Berlin: Wissenschaftlicher Verlag: S. 128

[2] vergl. Verband Deutscher Drehbuchautoren e. V. ( 51 Tatort-Autoren) 29.03.3012: Offener Brief von 51 Tatort-Autoren.

[3] vergl. Chaos Computer Club e. V. (zas) 29.03.2012: Antwort auf den offenen Brief der Tatort-Drehbuchschreiber. (25.05.2012)

[4] vergl. Handelsblatt Online (Dörner, Stephan und Sawalls, Achim) 31.01.2011: Ägypten Offline. Wie Mubarak das Internet abschalten ließ. (29.05.2012)

[5] Selke, Stefan 2009: Die Spur zum Menschen wird blasser: Individuum und Gesellschaft im Zeitalter der Postmedien. In: Dittler und Selke (Hg.) 2009: S. 13

[6] vergl. ebd.

[7] ebd.: S. 13 – 14

[8] vergl. ebd.: S. 14

[9] ebd.: S. 16