Für jede Kampagne ist die Multiplikation ihrer Inhalte in sozialen Netzwerken ein entscheidender Faktor geworden, um eine Online-Öffentlichkeit zu erzeugen. Jeder einzelne Nutzer sozialer Netzwerke ist Teil eines Mikro-Beziehungsnetzwerks, in dem er Inhalte veröffentlichen kann. Einfach zu bedienende Sharing-Plugins bilden die Schnittstellen zu den persönlichen Mikronetzwerken. Ein Nutzer kann einen publizierten Inhalt von jeder beliebigen Website aus z. B. in Twitter oder Facebook einbinden. Werden auf der betreffenden Website Sharing-Plugins für den jeweiligen Inhalt zur Verfügung gestellt, reichen ein paar Klicks aus, um selbigen direkt in das individuelle Mikronetzwerk weiterzuleiten. Anschließend können die sich in den Mikronetzwerken befindenden Nutzer den Inhalt wiederum per Mausklick in ihre Mikronetzwerke weiterleiten. Dieser einfache, technische Mechanismus fördert die sog. Viralisierung oder epedemische Ausbreitung von Inhalten in sozialen Netzwerken. Wie zuvor erläutert, werden Inhalte derart formatiert, dass sie zur Weiterleitung einladen, wenn nicht sogar auffordern.
Eine Kampagne sieht meistens eine weiterführende Aktion vor, ein sog. „Call to Action“. Dieser besteht oft in einer Aufforderung zur Spende oder dem unterzeichnen einer Online-Petition. In diesem Rahmen stößt man häufig auf den Begriff des Slacktivism [2] oder weiterführend des Clicktivism. Mit Slacktivism wird eine Handlung durch einen Online-Nutzer bezeichnet, die vorrangig im Rahmen eines gesellschaftlichen Anliegens getätigt wird und selbigen lediglich minimale Anstrengung kostet. Dies kann eben das Unterzeichnen einer Online-Petition sein, das Weiterleiten eines Kampagnen-Videos in die persönlichen Mikronetzwerke, das Spenden einer minimalen Summe oder die Veränderung bzw. der Austausch des eigenenProfilbilds (Avatar) in einem sozialen Netzwerk, um sich zu oder gegen eine Sache zu positionieren. Slacktivism ist eine geringschätzige Bezeichnung für eben solche Handlungen, da der hier zur Schau gestellte Aktivismus so gut wie keiner Energie seitens des Nutzers bedarf und dieser die Handlung lediglich aus einem egoistischen Moment der Selbstbefriedigung heraus ausführt. Die Bezeichnung Clicktivism ist eine Wortschöpfung des US-Amerikaners Micah White, die sich insbesondere auf die Protestorganisation durch soziale Medien bezieht. White selbst ist Redakteur des offiziellen Magazins der Adbusters (siehe Fallstudie Occupy Wallstreet) und gleichzeitig als Autor für die britische Tageszeitung „The Guardian“ tätig. Von White soll auch die ursprüngliche Idee zu der Kampagne von Occupy Wallstreet kreiert worden sein.[3] Das Problem am Clicktivism ist zunächst, dass dieser scheinbar nichts bewirkt. Hier liegt auch der wesentliche Kritikpunkt am Online-Campaigning. Das millionenfache Abspielen eines Videos hat keinen direkten Effekt auf einen realen Zustand. Millionen gesammelte Unterschiften für eine Online-Petition führen nicht zwangsläufig zur Umsetzung der im Petitionstext geforderten Maßnahmen. Der Aktivismus der Nutzer beschränkt sich hier auf einfachste Tätigkeiten vom Schreibtisch aus; die bequeme Schutzzone wird dabei nicht verlassen. Und der Erfolg der Kampagne wird anhand quantitativer Werte, nämlich den Klickzahlen, gemessen. Ein Vorgang, der der Logik des Marketings entlehnt ist: „The trouble is that this model of activism uncritically embraces the ideology of marketing. It accepts that the tactics of advertising and market research used to sell toilet paper can also build social movements. […] The obsession with tracking clicks turns digital activism into clicktivism.“[4] Die Einfachheit einer solchen rein auf die Online-Sphäre beschränkten Handlung und der damit einhergehenden, unmittelbaren Befriedigung des sozialen Gewissens könnte schließlich dazu führen, auf alle weiteren und aufwendigeren Formen der Unterstützung zu verzichten; der Online-Aktivismus mündet in kontemplativer Behaglichkeit. Darüber hinaus muss gefragt werden, in wie fern ein solcher Mechanismus die kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten einer Kampagne zusätzlich hemmt.Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte allerdings festgestellt werden, dass in allen Fällen des Offline-Aktivismus ein Online-Aktivismus vorausging, der einen entscheidenden Initialmoment etwa für Straßenproteste bildete. Eben die Aktivierung über Online-Kommunikation zu Offline-Handlungen, verstanden als Übergang von einem Medium ins andere (der sog. Solitonen-Effekt; siehe Tsunami-Metapher) steht hier im Fokus der Betrachtung. Kampagnenplattformen sind mittlerweile nur ein Aspekt einer Kampagnenstrategie. Diese Plattformen, wie auch speziell eingerichtete Kampagnenseiten, Blogs oder Facebook-Fanpages, dienen zunächst dazu, Aufmerksamkeit zu generieren. Primär fungieren diese als niedrigschwelliges Partizipationstool, um eine kritische Masse an Online-Nutzern an einem Punkt im Internet zu bündeln. Man kann hier durchaus von einer vorgebildeten Online-Masse sprechen, einer ver-öffentlichten Masse. [5] Verharrt eine Kampagne an dieser Stelle, eben im Stadium des Netzprotests, wird selbige nur wenig Wirkung erzielen. [6] Hierbei handelt es sich dann tatsächlich um Slacktivism, erstarrt im digitalen Schutzraum der Online-Sphäre. Im Zuge einer stringenten Anschlusskommunikation allerdings, kann die Online-Masse zum richtigen Zeitpunkt zu einem Offline-Aktivismus aktiviert werden (siehe auch Fallstudie Arabischer Frühling – Tsunami-Funktion). Hier wird ein gezielter Impuls zum Protest gesetzt, um einen Transformationsprozess von der vorgebildeten Online-Masse in eine Offline-Masse einzuleiten. Wie im Fall ACTA (siehe Fallstudie ACTA) gezeigt, verhindert das Online-Campaigning nicht den Aktivismus auf der Straße. Im Gegenteil, es unterstützt den Straßenprotest, wenn es diesen nicht sogar generierte. Allerdings divergieren die Ansichten hier je nach Betrachtung. Einerseits darf spekuliert werden, dass mittels Online-Kampagnen zusätzlich eine breitere Masse von Nutzern erreicht werden, die eben nicht auf die Straße gehen würden, so aber durch die Weiterverbreitung der Inhalte in ihren Mikronetzwerken für eine höhere Aufmerksamkeit für das Thema sorgen.[7] Andererseits deuten neuere Forschungsergebnisse auch daraufhin, dass „die beiden Partizipationsformen – Beteiligung in der wirklichen Welt und im Internet – nicht wechselseitig ausschließend sind. Wer auf der einen Seite politisch aktiv ist, ist dies grosso modo auf der anderen Seite auch.“[8]
Eine Form des Offline-Aktivsimus, hier vorrangig verstanden als Demonstration, scheint von fundamentaler Wichtigkeit für politische Kampagnen zu sein, da politische Willensbildung nach Persönlichkeit, Haltung und Positionierung im physischen Raum verlangt.[9] Diese beruht auf physischer Zeugenschaft, welche im Netz nicht existiert.[10] Wie im Rahmen der Fallstudien beobachtet wurde, erzeugt ein Straßenprotest eben durch seine Physis ein höheres Maß an Verbindlichkeit und verleiht dem jeweiligen Thema dadurch eine Wichtigkeit, die von den etablierten Massenmedien nicht ignoriert werden kann. Die Masse ‚zeigt‘ im Medienkontext nur sekundär auf ihr Anliegen. Primär zeigt sie auf sich selbst, in dem sie sich im Sinne einer Verkörperung ausstellt, damit diese wiederum medial aufbereitet und exponiert werden kann.
Der Sprung von On- zu Offline evoziert also eine Aufarbeitung des Themas durch die tradierten Medien, die eine hohe Reichweite erzeugen und große Teile der Gesellschaft erreichen, die ihre Informationen nicht primär aus dem Internet beziehen. Darauf folgend ist eine Wechselwirkung zwischen Online-Medien, Offline-Protesten und traditioneller Berichterstattung in den klassischen Medienformaten zu beobachten. Der Mechanismus dahinter ist folgender: Social Media wird zur strategischen Verknüpfung von On- und Offline-Aktionen genutzt. Im Sinne der Kampagnenlogik werden von Offline-Protesten direkt Medieninhalte generiert, die wiederum von tradierten Formaten ohne großen Aufwand übernommen werden können.[11] Die Protagonisten der Kampagne werden zu Inhaltsproduzenten der tradierten Medien. Hier wird bewusst inszeniert, um die klassischen Medien gezielt bedienen zu können. Das ein solches Vorgehen funktionieren kann, ist zum einem dem Umstand geschuldet, dass viele Redaktionen in den vergangenen Jahren aufgrund wirtschaftlichen Drucks und einem Mangel an zeitgemäßen, wirtschaftlichen Verwertungsmodellen Belegschaft abbauen mussten und so erwähnte Vorarbeit hinsichtlich der Inhaltserstellung oftmals bereitwillig aufgegriffen wird. Zum Anderen kann beobachtet werden, dass die traditionelle Berichterstattung nahezu zwangsläufig einsetzt, wenn sich genug Menschen zusammenfinden, um öffentlich ihren Willen oder Unmut zu bekunden. Die Formel lautet: Je größer die Demonstration umso wichtiger das Thema, um so höher die Wahrscheinlichkeit einer Verarbeitung in den Reichweiten stärksten Medien. Hierbei steht zunächst die pure Quantität im Vordergrund. Nicht umsonst wird bei jedem Offline-Protest die Zahl der Teilnehmenden angegeben. Die veröffentlichten Zahlen differieren je nach Absender erheblich. Diese Differenz ist indes nur natürlich, da es den Kampagnenmachern immer daran gelegen sein muss, eine größtmögliche Zahl zu kommunizieren, eben aufgrund benannter Formel.
Wie im Kapitel Social Campaigning schon erläutert, besitzen dramatisierte Inhalte ein höheres Potential, von den klassichen Medien aufgegriffen zu werden. Die ukrainische Feministengruppe Femen [13] z. B. erreichte mit ihren spektakulären Nacktprotesten eine hohe Durchdringung der klassischen Medien.[14] [15] [16] Bei Offline-Protesten entsteht gleichzeitig ein hohes Aufkommen an UGC (User Generated Content) durch die teilnehmenden Personen. Aufgrund der Nivellierung der Produktionsmittel zur Erstellung von Fotos und Videos (maßgeblich durch mobile Endgeräte) und der gleichsam niedrigen technischen Hürden zur Funktion von Bild- und Bewegtbildinhalten mittels einfach zu bedienender Software, ist ein Mechanismus zu beobachten, im Zuge dessen, jeder von jedem anderen Bildinhalte erstellen kann. Daraus hat sich eine Form der gegenseitigen, dokumentarischen Beobachtung entwickelt oder, negativ formuliert, der gegenseitigen Überwachung, die momentan zu einer neuen Kulturtechnik wird, und einen Prozess der Bilderschwemme auslöst. Die Software liefert Schnittstellen zur direkten Publikation der Inhalte im Internet sowie zur Multiplikation in soziale Netzwerke (Sharing Plugins). Ziel einer Kampagne ist es immer, die Herstellung so vieler Medieninhalte wie möglich auf allen zur Verfügung stehenden Kanälen zu provozieren, um eine höhere Reichweite online herzustellen. Außerdem wird dem sog. Social Content allgemein eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen, da dieser dem Anschein nach eben nicht von einem Medienunternehmen formatiert und gemäß eines Redaktionscredos gedeutet wurde. Der vermeintlich erhöhte Wahrheitsgehalt von UGC bezieht sich auf ein weit verbreitetes Klischee, dass die traditionellen Medien im Gegensatz zu einer Privatperson lügen. Doch vielmehr noch ist der Glaube von einem gesteigerten Wahrheitsgehalt dem dokumentarischen Charakter der selbst generiertem Inhalte geschuldet, allen voran Videoaufnahmen, da diese ein Gefühl der Nähe am Geschehen im Rezipienten hervorrufen.[17] Und zuletzt kommt es in sozialen Netzwerken, in dem UGC vorrangig multipliziert wird, zu einem Vertrauensübertrag von Nutzer zu Nutzer. Einfach formuliert bedeutet das, wenn eine kritische Masse an Nutzern im persönlichen Beziehungsnetzwerk einen Inhalt teilt, ist man selbst als Nutzer eher geneigt, sich mit diesem auseinanderzusetzen, als wenn der Inhalt außerhalb des Beziehungsnetzwerks an den Nutzer herantritt (siehe Verteilungsmechanismen).
Im Zuge von Straßenprotesten kommt es oft zu Repressionen von staatlicher Seite, wie z. B. zu Polizeigewalt. Die Umstehenden haben in solchen Momenten Gelegenheit, die tatsächlichen Geschehnisse direkt in Medieninhalte umzuwandeln und zu veröffentlichen. Die Beobachtungen innerhalb der untersuchten Fälle deuten darauf hin, dass je drastischer die Repression ausfällt, desto mehr Energie wird den On- und Offline-Protesten zugeführt.[20] Der in der Fallstudie über den Arabischen Frühling zitierte Satz Noha Atefs „First was to make them angry, then to mobilize them.“ wird exemplarisch fortgeführt. Zum anderen erhöht die Drastik der Repression auch die Dramatik der Bilder, womit das Potential, dass diese von den klassischen Medien weiterverarbeitet werden, signifikant erhöht wird. Eine Vielzahl an Beispielen gibt es hier im Rahmen der Occupy-Wallstreet-Bewegung. Einer der bekanntesten Vorfälle hat sich während eines Sitzstreiks im Rahmen der Occupy-Bewegung an der Universität von Kalifornien in Davis am 18.11.2011 zugetragen. Dort machte ein Beamter der Universitätspolizei, Lieutenant John Pike, massiv von einem Reizstoff Gebrauch, der im Volksmund Pfefferspray genannt wird, um den Sitzstreik einiger Studenten aufzulösen. Da es sich um eine Form des passiven Widerstands handelte und zuvor wohl keine Aggression von den Demonstrierenden ausgegangen ist, schien die Maßnahme des Beamten allzu drastisch und durch keine Provokation zu rechtfertigen. Der Vorfall wurde von mehreren Umstehenden auf Video festgehalten und noch am gleichen Tag auf YouTube hochgeladen [21]. Das Video wurde von einer Vielzahl von Blogs, unter anderem von Boing Boing [22], einem der meistgelesenen englischsprachigen Blogs, aufgegriffen, viralisierte sich und fand so auch seinen Eingang in die traditionellen Medien. Obwohl noch ein weiterer Beamter ähnlich verfuhr, fokussierte sich die internationale Blogosphäre auf Lieutnant John Pike, der fortan als „Pepper Spraying Cop“ international traurige Berühmtheit erlangte, zum Sinnbild amerikanischer Beamtenbrutalität und samt seinem Kollegen vom Dienst suspendiert wurde. Die Wechselwirkung zwischen Offline-Protest, Online-Medien und traditionellen Medien ist hier exemplarisch nachzuvollziehen.Im Rahmen einer Räumung eines Protest-Camps in Oakland durch die Polizei kam es ebenfalls zur Eskalation. Das rigide, teils gewalttätige Vorgehen der Polizei wurde laut Medienberichten von einem der Protestler mit den Worten: „The whole world is watching!“[23] begleitet. Dieser Satz kann an einer Fotografie des Tahrir-Platzes vom 10. Februar 2011 exemplarisch verdeutlicht werden. Hierbei handelt es sich um eines der typischen Bilder, die man weltweit in der Berichterstattung zu sehen bekam. Ganze Nationen konnten live im Fernsehen die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz mitverfolgen und bangen, ob Mubarak nun zurücktreten oder das Militär den Platz mittels Gewaltanwendung räumen wird.
Zu erkennen sind hier zwei verschiedene Arten von Menschenmengen, die sich innerhalb einer Masse organisieren. Im Kern befindet sich eine lockere Anhäufung von Zelten und Demonstranten, die zwar dicht, aber nicht allzu gedrängt angeordnet sind. Hinzu kommt eine kleine Freifläche, die wie ein Vorhof wirkt. Im Kreisrund um diesen Kern herum ordnen sich in maximaler Dichte die Demonstranten an. Im Kern der Masse befinden sich jene Demonstranten, die die alternative Berichterstattung über Online-Medien organisieren und direkt aus dem Geschehen heraus operieren. Diese sorgen für die kontinuierliche Veröffentlichung von Foto- und Videomaterial, Interviews und Artikeln über die Geschehnisse auf dem Platz und den Protestbewegungen im Land. Sie sind Produzenten, Kommunikatoren und Multiplikatoren in einem. Die weitaus größere Masse der Demonstranten positioniert sich eng um diesen Kern, bricht jedoch nicht in selbigen ein. Diese Anordnung scheint Ergebnis einer bewusst verfolgten Strategie zu sein. Es darf gemutmaßt werden, dass es sich um einen gegenseitigen Schutzmechanismus handelt, der hier in Wechselwirkung mit den Medien in Kraft tritt. Die Berichte der „digitalen Arbeiter“ vor Ort wurden direkt von großen internationalen Nachrichtenagenturen aufgegriffen, verarbeitet und in die traditionellen Medien (redaktionell verdichtet) überführt. Auf einigen Websites großer Nachrichtenmagazine konnte man eben diese Bilder in sog. Live-Streams nachvollziehen, TV-Nachrichtenmagazine wie N24 in Deutschland übertrugen live und ungefiltert von den Geschehnissen auf dem Platz. Es wurden Berichte direkt aus der Menge übertragen und Interviews mit den Demonstranten gezeigt, um der Situation die nötige Authentizität und dem Zuschauer die dokumentarische Illusion der Nähe zu vermitteln. Der Tahrir-Platz war zu diesem Zeitpunkt zur Gänze mediatisiert, es kam zur maximalen Verschränkung der realen Geschehnisse mit der medialen Inszenierung weltweit. Der geflügelte Satz „Die Weltöffentlichkeit sieht zu“ war hier Realität geworden.Dieses Zusammenspiel von dicht gedrängten Demonstranten, einer unabhängig von Zensur operierenden, kontinuierlich in allen Formaten publizierenden Einheit und der medialen Anwesenheit der Weltöffentlichkeit, repräsentiert durch die internationalen Medien, etablierte die erwähnte Schutzfunktion für die Demonstranten auf dem Platz. In dem Moment, wo das Regime die unabhängige Berichterstattung hätte beenden wollen, hätten sich Polizei und Militär buchstäblich eine blutige Schneise durch die Masse schlagen müssen, um das Zentrum zu erreichen. Und das unter den Augen der Weltöffentlichkeit, deren einzelne Vertreter das Geschehen vom heimischen TV-Gerät aus live beobachten würden. Eine solche Aktion durchführen und die Welt in Echtzeit daran teilhaben lassen, hätte dem Regime jegliche Verhandlungsposition zu diesem Zeitpunkt genommen und außenpolitisch für ein Desaster gesorgt. Hieraus ergibt sich ein möglicher Erklärungsansatz für die Konfiguration der Masse auf obiger Fotografie. Die Masse schützt rein physisch ihren Kern. Umgekehrt schützt aber auch der Kern die Masse, da eben jedes gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten bis ins kleinste Detail aus der Masse heraus wie auch von den Korrespondenten großer Nachrichtensender vor Ort dokumentiert werden kann. In der vorliegenden Konfiguration hätte das Regime eine Unzahl an dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in Kauf nehmen müssen, um überhaupt nur den Kern zu erreichen. Die Weltöffentlichkeit würde live zusehen und die Staaten fühlten sich ihrerseits unter Druck gesetzt, zu handeln. Ägypten als Staat hat sich vor der Revolution als freie, von der Bevölkerung legitimierte Gesellschaft inszeniert. Dem herrschenden Establishment war daran gelegen, die Demonstranten als nicht vom Gros der Bevölkerung legitimierte „Aufwiegler“ und „Feinde der freien ägyptischen Gesellschaft“ zu stilisieren. Mit einem radikalen, gewalttätigen Vorgehen seitens des Regimes gegen eine große Masse, die symbolisch für ein Gros der Bevölkerung steht, hätte dies seine Autokratie öffentlich zur Schau gestellt und die Revolution von Grund auf legitimiert. Die vom Staat unabhängige Berichterstattung sollte die Stilisierung des Staates in den von selbigem kontrollierten Medien mit der Realität abgleichen, die wahren Verhältnisse sichtbar machen und öffentlich verhandeln. Der hier veranschaulichte Mechanismus bedeutet eine Fortführung der Kampagnenlogik forciert in medialen Wechselwirkungen, wie sie bereits bei Bouazizi oder Said festgestellt worden ist. Die maximal mögliche Mediatisierung des Raums ist ihre logische Konsequenz.
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[1] Clicktivism (White, Micah) 2010: What is Clicktivism. <http://www.clicktivism.org> (12.04.2012)
[2] Wikipedia 2012: Slacktivism (12.04.2012)
[3] ebd.
[4] the Guardian (White, Micah) 12.08.2010: Clicktivism is ruining leftist activism. (12.04.2012)
[5] vergl. Interview 07
[6] vergl. Interview 02
[7] vergl. Interview 35 uns 37
[8] Kaufmann, Vanessa; Ritzi,Claudia und Schaal, Gary S. 2012: Zwischen Ernst und Unterhaltung: Eine empirische Analyse der Motive politischer Aktivität junger Erwachsener im Internet. Hamburg: Helmut-Schmidt-Universität: S. 35. Online.
[9] ebd.: S. 35: „In der wirklichen Welt ist die Hoffnung auf konkrete Einflussnahme die primäre Motivation für politische Beteiligung. Im Internet gewinnt eine Partizipationsform große Bedeutung, die wir als Symbolpartizipation bezeichnen.“
[10] vergl. Interview 02
[11] vergl. Interviews 19, 23 und 37
[12] Google+ (FEMEN) 28.12.2012: FEMEN at Davios Forum. (12.04.2012)
[13] vergl. Femen.org: Home (12.04.2012)
[14] vergl. SPIEGEL ONLINE (jjc/AFP) 06.11.2011: Barbusiger Protest auf dem Petersplatz. (12.04.2012)
[15] ZEIT ONLINE (Stelzer, Tanja) 03.04.2012: Die neuen Nackten. (12.04.2012)
[16] DasErste.de (Kron, Norbert) 29.05.2011): Rückschau: Oben ohne gegen den Staat: Die ukrainische Protestbewegung „Femen“. (12.04.2012)
[17] vergl. Interview 35
[18] boingboing (Jardin, Xeni) 18.11.2011: Police officer pepper-sprays seated, non-violent students at UC Davis. (12.04.2012)
[19] Wikipedia (RTAmerica) 21.11.2011: Occupy UC Davis news coverage RT. (12.04.2012)
[20] Ein Gegenbeispiel zu dieser These artikuliert Benjamin Bidder in seinem Artikel über die gescheiterte Revolution in Weißrussland unter der Fragestellung: „Wieso läuft es in Weißrussland nicht wie in Ägypten?“ In: Spiegel Online, Netzwelt (Bidder, Benjamin) 10.08.2012: Netzprotest gegen Lukaschenko: Weißrusslands gescheiterte Web-Revolte. (17.10.2012)
[21] YouTube (AggieTV) 18.11.2011: UC Davis Protestors Pepper Sprayed. (12.04.2012)
[22] vergl. boingboing (Jardin, Xeni) 18.11.2011: Police officer pepper-sprays seated, non-violent students at UC Davis.
[23] vergl. PoliticusUSA (Anomaly100)( 28.10.2011: Sgt. Shamar Thomas Is Back And He Brought The Marines With Him To #OWS. (12.04.2012)
[24] BZ (Reuters/dpa/dapd) 10.02.2011: Proteste in Ägypten: Live Ticker: Kein Rücktritt von Mubarak. (06.03.2012)