Im Rahmen der Exploration konnte festgestellt werden, das ein wesentlicher Bestandteil eines Internet-Tsunamis eine Kampagne oder das sog. Social Campaigning ist. Dies meint in erster Linie eine strategische Platzierung von Themen im Internet als initiales Moment durch eine gut vernetzte Gruppe oder Organisation, die über das dazu nötige inhaltliche wie technische Wissen und über bereits vorhandene Verteilungsknoten verfügt.
Innerhalb der betrachteten Fälle (siehe Kapitel 3) konnte im Einzelnen nachgewiesen werden, dass mittels Kampagnenstrukturen eine Viralisierung [1] der Themen provoziert wurde, die sich letzten Endes zu einem Internet-Tsunami entwickelten. Social Campaigning will hier als Prozess verstanden werden, im Zuge dessen die Verteilungsmechanismen (vergleiche Kapitel 4.4) des Internets instrumentalisiert werden. Ziel ist es, Aufmerksamkeit bzw. Sichtbarkeit und damit einhergehend Öffentlichkeit für ein bestimmtes Thema zu generieren.
Die Blickachse der Zuschauer wird durch klassische Medien auf bestimmte Themen zentriert.[2] Dieser Vorgang ist Teil einer Medienpolitik: Es sind nur solche Inhalte von allgemeiner Wichtigkeit, die von den dominierenden Medien als wichtig genug erachtet werden, um darüber zu berichten. Die Dominanz bezieht sich hier auf die Reichweiten der jeweiligen Print-, TV-, Radio- und Online-Medien. Letztere werden als Verlängerung der klassischen Medien ins Internet begriffen. In einem Mediensystem wird Sinn konstruiert, in Form massenmedialer Aussagen. Die Produktion von Sinn ist abhängig vom jeweiligen politischen, sozioökonomischen und wirtschaftlichen Kontext und konstruiert eine Art der Wahrheit und damit einhergehend Realität. Inhalte, die in den klassischen Massenmedien aufgearbeitet werden, haben automatisch den Anschein einer hohen Relevanz für die Gesellschaft. Die Inhalte durchlaufen den normativen Prozess des sog. Qualitätsjournalismus und werden anschließend medial formatiert, d. h., werden in Formate gebracht (wie das Wort In-formation schon sagt) und erhalten somit den Stellenwert verbriefter Fakten. Die Redaktionen des klassischen Mediensystems fungieren als Gatekeeper [3], da das System nicht durchlässig ist, sondern einen Filtrationsprozess beschreibt. Inhalte werden gezielt ausgesucht und aufbereitet. Welche Inhalte dies sind und wie genau diese aufbereitet werden, ist abhängig vom jeweiligen Redaktions-Credo, den Programmgestaltern und den Finanzierungsmodellen. Die Aufbereitung oder Formatierung durch die Redaktionen stellt jedoch Deutung her, die aufgrund der hohen Reichweiten schnell in eine Deutungshoheit münden kann.[4]
Ein sehr anschauliches Beispiel für mediale Formatierung und Wahrheitskonstruktion findet sich im Bereich der Pressefotografie. Auf seiner Website versucht der italienische Fotograf Ruben Salvadori mit dem Projekt Photojournalism Behind the Scenes [5] den Prozess der Pressefotoerstellung kritisch aufzuarbeiten. Er beschreibt, dass die Medienindustrie grundsätzlich auf dramatische Bilder angewiesen sei und, sich daraus ergebend, Druck auf die Fotojournalisten ausgeübt werde, auch dramatische Bilder zu liefern, selbst dann, wenn die Situation die geforderte Dramatik nicht hergibt.[6] Um diesen Prozess ersichtlich zu machen, rückt Salvadori den Fotografen selbst in das Zentrum seiner Bilder und dekonstruiert das Pressebild und damit einhergehend die im Bild aufgehobene Aussage, in dem er dessen Entstehung dokumentiert.
Im linken Bild würde der Rezipient eine Konfliktsituation zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten vermuten, da diese Deutung durch den Bildausschnitt und die Perspektive evoziert wird. Rechts daneben ergibt sich eine ganz andere Deutung, da der weitere Kontext im Bild selbst zu sehen ist. Während im linken Bild eine Konfliktsituation angenommen werden kann, zeigt das rechte Bild ein gemütliches Beisammenstehen der Sicherheitskräfte und den Fotografen, der dabei ist, die Situation zu inszenieren. Der Konflikt ergibt sich lediglich durch die Formatierung. Das dramatische Ereignis, welches eine bestimmte Deutung provozieren soll, wird erst durch das Bild hergestellt. Eingebettet in einen journalistischen Text ergibt sich dann ein Sinnprodukt, welches einmal publiziert als Fakt und somit als Wahrheit aufgefasst werden kann, aufgrund des Stellenwertes, der der klassischen journalistischen Berichterstattung zugewiesen wird.Natürlich darf hier nicht grob pauschalisiert und das Mediensystem generell als manipulativ agierendes in Schutzhaft genommen werden. Für wie verbindlich hinsichtlich des Wahrheitsgehalts ein veröffentlichter Inhalt angesehen wird, ist vor allem von der Reputation des Produzenten der Inhalte abhängig und vom subjektiven Vertrauen des Rezepienten in diesen. Den Tagesthemen zum Beispiel kommt hierzulande ein höherer Stellenwert hinsichtlich Vertrauenswürdigkeit zu als etwa den News von RTL II.
Social Campaigning im Internet dient nun dazu, die durch die klassischen Massenmedien konstruierte Architektur des Blicks zu verändern, indem Inhalte in das Mediensystem eingebracht werden, über die ansonsten nicht oder kaum berichtet wird. Die Nicht-Berichterstattung soll überwunden werden, indem eine Kampagne so viel Druck erzeugt, dass das Thema schließlich doch von den klassischen Medien aufgegriffen und verarbeitet wird. [8] Internetkommunikationsmechanismen dienen in diesem Zusammenhang vorrangig der Aufmerksamkeitssteuerung des Rezipienten. Dieser soll auf Anliegen aufmerksam werden, die von den klassischen Massenmedien bisher vernachlässigt wurden. Des Weiteren soll eine Kampagne eine bestimmte Deutung bei den Rezipienten evozieren. Auch hier werden Inhalte aufbereitet im Sinne der medialen Formatierung. Die technischen Verteilungsmechanismen, die das Internet bietet, werden von vornherein in das Kampagnenkonzept integriert, bilden sogar deren Grundlage. Ob eine Kampagne wirklich funktioniert, also eine kritische Masse an Rezipienten erreicht, ist vorrangig von den Adressaten abhängig und den Typologien der Mediennutzer.[9] Der Zufall spielt hier eine wichtige Rolle. Der Erfolg einer Kampagne kann prinzipiell nicht vorhergesagt werden.
Wesentlich für die Formatierung von Inhalten innerhalb einer Kampagne ist deren Inszenierung. Social Campaigning scheint immer auf Emotionen ausgerichtet zu sein, will den Rezipienten emotional adressieren. Informationen müssen in diesem Zusammenhang impulsiv, anschaulich, lebendig inszeniert werden. Marc Andrews führt in seiner Abschlussarbeit über Social Campaigns [10] an, dass nach dem tatsächlichen Erleben eines Ereignisses der höchste Grad an Emotionalisierung und Aktivierung durch Bewegtbilder mit Audio-Komponente (audiovisuelle Inhalte) hergestellt wird. Je höher der Abstraktionsgrad der Inhalte (Bsp.: Statistiken, Analysen), desto geringer fällt die emotionale Reaktion aus. Ein hoher Abstraktionsgrad hingegen ist auf den Intellekt ausgerichtet. Die Funktion von Bildern nun ist es, den Prozess der intellektuellen Durchdringung eines Themas zunächst zu unterdrücken: „Our minds prefer to take the fastest and easiest route to make decisions. Images offer shortcuts toward the endpoint of making a decision and can prompt the reader to make a relatively quick decision, largely ignoring the more analytical, abstract information.“[11] Hierin unterscheiden sich Mechanismen des Social Campaigning hinsichtlich ihrer Inszenierung in keiner Weise von dem eingangs erläuterten Beispiel der Pressefotografie.
Das lässt sich auch anhand der betrachteten Fälle verifizieren (siehe Fallstudien). Im Zuge der tunesischen Revolution wurde das Video zur Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi als gezielt gesetzter Trigger für die Auslösung von Straßenprotesten identifiziert. Eine äquivalente Rolle spielten innerhalb der ägyptischen Revolution die Fotografien von Khaled Saids deformiertem Schädel. Die Occupy-Bewegung findet ihr initiales Moment in einer Kampagne der kanadischen Adbusters Media Fundation wie auch die Anti-ACTA-Bewegung maßgeblich auf eine Reihe von Organisationen zurückzuführen ist, die das Thema gesetzt haben. Innerhalb letzterer Protestwelle spielte ein YouTube-Video des weltweit agierenden Kollektivs Anonymous eine zentrale Rolle.[12] Und selbst im Rahmen der Plagiatsaffäre Guttenberg hatte das Bild des sog. Barcodes eine zentrale Funktion für die Herstellung einer (Medien-)Öffentlichkeit. Neben Bild- und Bewegtbildinhalten stößt man auch immer wieder auf eingängige Slogans wie „We are all Khaled Said“ (Ägypten) oder „We are the 99 percent” (Occupy). Anhand solch einprägsamer Wahlsprüche wird der Versuch, im Rezipienten Identifikation mit dem jeweiligen Thema hervorzurufen, exemplarisch verdeutlicht. Diese Techniken sind denen der Werbeindustrie verwandt und können unter dem Begriff Social Marketing subsumiert werden: „Unter Social Marketing wird die Konzeption, Umsetzung und Evaluation von Strategien verstanden, die darauf abzielen, einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel herbeizuführen und gesellschaftlich relevante Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen zu beeinflussen, zu erhalten oder bewusst zu machen.“[13]
Die Macht der Bilder, als konsequenteste Form der Komplexitätsreduktion eines Themas, ist hier nicht zu unterschätzen. Die Bilder besitzen eine starke Symbolfunktion, da diese mit den jeweiligen Botschaften, die durch eine Kampagne verbreitet werden sollen, aufgeladen werden und anschließend als Stellvertreter für das gesamte Thema fungieren. Der Rezipient soll im besten Fall den Bildinhalt derart erfassen, dass dieser den kompletten Kontext mitliest, diesen implizit annimmt. Wie oben bereits erwähnt, haben Bewegtbilder den zweithöchsten Stellenwert in der Auslösung emotionaler Reaktionen nach dem tatsächlichen Erleben. Dass sich innerhalb von Social Campaigning verstärkt auf die Herstellung von Videos konzentriert wird, die anschließend auf Videoportalen im Internet veröffentlicht und über soziale Netzwerke multipliziert werden, erschließt sich auch aus den Nutzergewohnheiten des Online-Publikums. Im Jahr 2011 waren 74 % aller Deutschen online. Allgemein nimmt der Online-Anteil in allen Altersgruppen zu. 97,3 % aller Personen in der Altersgruppe der 14 – 29-Jährigen sind bereits online [14]. In Deutschland beläuft sich die Nutzung von Videoplattformen auf 58 % aller deutschen Onliner. Mit 38 Millionen Unique Visitors führt YouTube die Top 20 der meistgenutzten Videoplattformen in Deutschland an.[15] In der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011heißt es, dass die Nutzung von Communitys und Bewegtbildern im Allgemeinen weiter zunimmt, wohingegen sich unter den meisten Web-2.0-Angeboten hinsichtlich der Nutzung gegenüber dem Vorjahr kaum Veränderungen verzeichnen lassen.[16] Deutschlandweit werden derzeit über 23 Millionen aktive Nutzer des sozialen Netzwerks Facebook gezählt. [17] [18] In einer aktuellen Comscore-Studie ist die Rede von 1,2 Milliarden Nutzern Sozialer Netzwerke weltweit und weiter, dass eine von fünf Minuten online in sozialen Netzwerken verbracht wird. Auch wird nochmal gesondert hervorgehoben, dass die Wichtigkeit von Facebook gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, da mittlerweile über die Hälfte des weltweiten Publikums durch Facebook erreicht wird. Hier werden eine von sieben Minuten online verbracht und drei von vier Minuten, die sich Nutzer überhaupt in sozialen Netzwerken aufhalten.[19]
Die Erfolgschance für eine Social Campaign kann dadurch erhöht werden, dass den Rezeptionsmustern der jeweiligen Zielgruppe entsprochen wird. Aus diesem Grund greifen viele Kampagnen auf eine popkulturelle Ästhetik zurück, „weil diese einfach zu konsumieren, schnell lesbar und deshalb effizient ist – inklusive ‚Freiheits-Versprechen‘”[20]. Auf diese Weise wird insbesondere die junge und gleichzeitig größte Zielgruppe im Internet adressiert, die vorrangig Dienste wie YouTube, Twitter und Facebook verwendet. Erfolgreiches Social Campaigning nutzt geschickt eine zielgruppengerechte Kombination aus der Instrumentalisierung herrschender Sehgewohnheiten (formal) verknüpft mit emotionaler Aktivierung (inhaltlich) und Distribution in reichweitenstarken Netzwerken. Letztere werden als Katalysatoren genutzt, um die Inhalte einfach und schnell zu verbreiten, wie z. B. durch Twitter, da der Microblogging-Dienst den Vorteil einer schnellstmöglichen Weiterleitung von Inhalten durch die Retweet-Funktion bietet. Hieraus kann sich dann eine epedemische Ausbreitung der Inhalte im Internet entwickeln.
Ein solcher Mechanismus kann an der Kampagne Kony 2012 der US-amerikanischen Organisation Invisible Children [21] exemplarisch nachgewiesen werden. Die Kampagne hatte zum Ziel, Aufmerksamkeit für die Problematik von Kindersoldaten in Norduganda zu schaffen und den maßgeblichen Verantwortlichen für die Zwangsrekrutierung zehntausender Kindersoldaten Joseph Kony, Führer der paramilitärischen Gruppe Lord’s Resistance Army (LRA), an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren und in seinem Handeln stoppen. Zu diesem Zweck wurde ein mittellanger Film (ca. 30 Minuten) produziert und auf YouTube distribuiert.[22] Der Film ist hinsichtlich seiner Machart höchst emotionalisierend, bisweilen sehr pathetisch gehalten. Direkt zu Anfang wird auf die Macht des Internets verwiesen, das einen Weg bieten soll, die eingeübten Spielregeln der Macht zu unterlaufen. Ausschnitte bekannter Viral-Videos auf YouTube werden gezeigt, Facebook wird auf der formal-ästhetischen Ebene eingeführt, in dem ein Teil der Geschichte, nämlich der persönliche Antrieb des Regisseurs und Mitbegründers der Organisation Jason Russell, in der Optik der Facebook-Timeline nacherzählt wird. Ohnehin wird der Fokus des Films auf die Figur des Regisseurs gelegt, über den eine persönliche Identifikation mit dem Thema erzielt werden soll. Schnell verortet sich das Video im Kontext des arabischen Frühlings und knüpft an die revolutionären Umbrüche in Nordafrika an, um zu verdeutlichen, dass man gemeinsam alles erreichen könne. Dieses beschworene Kollektivgefühl wird im Folgenden mit konkreten Handlungsanweisungen verknüpft. Bei Minute 08:30 hört man den Sprecher aus dem OFF (ebenfalls der Regisseur) sagen: „Wir stoppen Kony und ich werde euch genau sagen, wie wir das machen“. Anschließend wird auf das von Invisible Children produzierte Material-Kit verwiesen, eine Ansammlung von Werbemitteln bestehend aus Poster, Sticker, Flyer und Armband, das im Online-Shop der Website der Organisation erworben werden kann. Von der Verwendung dramatischer Musik und animierender Pop-Songs über die Stilisierung der Filmbilder in Elendsästhetik, angelehnt an große Hollywood-Produktionen, bis hin zur Entlehnung von Bildtechniken wie Motion-Design, die den Sehgewohnheiten besonders einer jüngeren Zielgruppe entsprechen, werden alle Register gezogen. Ohnehin wird über die Art der Montage und die Ästhetik besonders eine junge, netzaffine Zielgruppe angesprochen. Dies findet sich auch in den produzierten Materialien wieder, wie dem symbolisch solidarisierenden Armband oder dem Kampagnenposter. Es wird sogar darauf verwiesen, dass man Joseph Kony berühmt machen wolle, indem man die gleiche Art der Propaganda nutze, wie sie von den bestehenden Mainstreammedien tagtäglich in Form von Werbebotschaften genutzt werde. Sprich, die bereits bestehenden Sehgewohnheiten werden für die Kampagne radikal instrumentalisiert und auf die Zielgruppe abgestimmt. In diesem Zusammenhang wird im Film der Streetart-Künstler und Aktivist Shepard Fairey zitiert, der sich selbst der Praktiken des sog. Guerilla-Marketings bedient. Im Rahmen seiner Arbeiten finden sich immer wieder ganz direkte, ironisch verzerrte Zitationen auf propagandistische Bildgestaltung. Fairey produzierte für die Kampagne zur US-Präsidentschaftswahl von Barack Obama ein mittlerweile weltweit bekanntes Plakat. Bei der Betrachtung des Kampagnenposters zu KONY 2012 fallen ästhetische Ähnlichkeiten hinsichtlich der Bildgestaltung sofort ins Auge. Auch hier ist die ästhetische Funktion insbesondere der Adressierung einer jungen Zielgruppe geschuldet. Zur weiteren Stilisierung von Joseph Kony als finsterer Übeltäter wird dieser auf dem Poster in einem Kontext mit Osama Bin Laden und Adolf Hitler gebracht. Das Bild Konys selbst ist zur Hälfte geschwärzt, was die Aufforderung, selbigen aus der Dunkelheit an das Licht der Öffentlichkeit zu zerren, bildlich transportiert.
Im Rahmen des Films wird konkret zu einem weltweiten Offline-Event in der Nacht vom 20. auf den 21. April aufgerufen. Hierbei sollte das sich im Materialkit befindliche Poster massenhaft auf den Wänden der Städte angebracht werden, zur Herstellung einer Sichtbarkeit im direkten Lebenskontext der Menschen, um eine möglichst breite Masse zu erreichen. Außerdem wurde versucht, das Offline-Event durch lokale Facebook-Events weiterzuverbreiten. Der Film endet mit einer konkreten Handlungsanleitung in vier Schritten: Online-Kampagne unterzeichnen und sich für die Anschlusskommunikation in den Newsletter eintragen, Werbemittel kaufen, Geld spenden und das Video in den sozialen Netzwerken teilen, mit dem expliziten Zusatz, dies würde nichts kosten.Tatsächlich hatte die Kampagne hinsichtlich der Online-Verteilung einen einzigartigen Erfolg. Innerhalb weniger Tage wurde das Video 50 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Mittlerweile ist unter dem Video ein statistischer Wert von über 85 Millionen Abspielungen erreicht.[25] Die angeschlossene Facebook-Fanpage [26] verzeichnet über 775.000 Abonnenten, jene der Organisation Invisible Children [27] sogar über drei Millionen. Der Twitteraccount [28] der Organisation zählt momentan über 416.000 Abonnenten.
Eine Datenanalyse von Gilad Lotan bestätigt die oben beschriebene Vermutung der Adressierung einer vorrangig jungen Zielgruppe: „The preliminary YouTube data paints a picture of a youth movement: the video was heavily viewed from mobile phones and is most popular with 13-17 year old females and 18-24 year old males.“[30] Auch wird die besondere Rolle mobiler Endgeräte hinsichtlich einer Viralisierung hier deutlich.Innerhalb der Kampagne wird eine Reihe prominenter Persönlichkeiten aus Kultur und Politik aufgeführt. Interessant ist besonders die Zusammensetzung der ersten Gruppe, eine bunte Mischung aus Popmusikern, Schauspielern und Unternehmern wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg, dem Gründer und Vorstandsvorsitzenden von Facebook. Insbesondere die Popmusiker wurden als Multiplikatoren des Videos über ihre Twitterkanäle eingesetzt. So finden sich zwischen dem 7. und 8. März auf den für Twitter enorm reichweitenstarken Kanälen der Popmusiker Justin Bieber [31], Sean Combs [32] und Rihanna [33] Beiträge der Künstler, die ihre Abonnenten zum Sehen des Videos auffordern. Um deren bestehende Netzwerke für die Kampagne zu instrumentalisieren, wurde eine simple Taktik eingesetzt. Bilder der vermeintlichen Unterstützer wurden auf der Kampagnen-Website veröffentlicht und die Nutzer dazu animiert, die Bilder anzuklicken. Klickte ein Nutzer auf ein Bild, wurde automatisch eine Botschaft per Twitter erzeugt, die an den jeweiligen Prominenten gerichtet war und diesen dazu aufforderte sich das Video anzuschauen und die Kampagne zu unterstützen. Auf diese Weise konnten in kurzer Zeit zehntausende von Nutzer-Erwähnungen generiert werden, die sich direkt an die Prominenten richteten. Eine sehr simple und wirkungsvolle Taktik, die zur Penetration der Prominentennetzwerke durch inszenierten Nutzer-Druck führte.[34] Die Prominenten wurden also erst im Rahmen der Kampagne zu Unterstützern gemacht bzw. in einer Unterstützerrolle manipuliert. Als Adressatengruppe verstanden, kam man ebenfalls deren Präferenzen entgegen, so dass vermittelt wurde, man unterstütze damit eine gerechte Sache und die Philanthropie.
Kampagnenfilme eignen sich hervorragend als dramatisierte Form der Weltverklärung. Einmal von den traditionellen Medien entdeckt, wurde das Kony-Video als hochmanipulativ und faktisch irreführend scharf kritisiert.[35] [36] Auch an der Organisation selbst wurde hinsichtlich Motivation und des Umgangs mit den durch Spenden erhaltenen Geldern, wie z. B. den Gewinnen aus dem Verkauf der Werbemittel, harsche Kritik laut.[37] Diese reichte von Betrugsvorwürfen über die Vermutung, man wolle regional wirtschaftliche Interessen fördern, bis hin zu der These, der Film sei Werbung für eine US-militärische Intervention. Die Kritik an der Kampagne viralisierte sich ebenfalls und reichte soweit, dass sich Einwohner Ugandas und Exilanten per Videobotschaft [38] an Internetnutzer richteten und sich um Klarstellung der Faktenlage bemühten. Das Blog „Visible Children“[39] sammelt kritische Meinungen zur Kony-Kampagne, während eine Gruppe von Künstlern aus Uganda im Rahmen des Social-Media-Projekts „Uganda 2012“[40] eine filmische Gegendarstellung produzieren möchte. Auf deren Website heißt es: „Most Ugandans were shocked to witness a video that moved to ‘Make Kony Famous’ and mischaracterized the war in Northern Uganda (the war ended in 2006).“[41] Dies ist nur ein Beispiel aus einer Masse an kritischen Auseinandersetzungen, initiiert von einer Masse an Nutzern, die sich mit dem Thema kritisch auseinandersetzen wollen. Auf aljazeera.com wurde unter dem Titel Uganda Speaks sogar eine Gegenkampagne gestartet. Auf einer dort implementierten Microsite [42] können sich die Einwohner Ugandas in einem sog. Crowd-Mapping-System mit ihrer Botschaft geographisch verorten. Mit einer solchen Maßnahme wird versucht, Verbindlichkeit einerseits durch die Verortung der Botschaft in den geographischen Raum und andererseits durch die Authentizität der Botschaften selbst zu etablieren.
Am Beispiel Kony 2012 und aus den Interviews 20, 35 und 37 lässt sich Folgendes exemplifizieren:
- Kampagnen nutzen Strategien und Taktiken zur Aufmerksamkeitssteuerung. Die Instrumentalisierung von Verteilungsmechanismen im Internet sowie der konkrete Zuschnitt der Kampagne auf Nutzertypologien sollen eine epedemische Ausbreitung von Inhalten provozieren.
- Es wird der Versuch unternommen, Nutzer, die bereits über reichweitenstarke Netzwerke verfügen, in die Kampagne als Multiplikatoren einzubinden. Auf die potentiellen Multiplikatoren wird Druck durch eine kritische Masse an Nutzern erzeugt, die die Multiplikatoren direkt und öffentlich adressieren. Eine Form der sozialen Zwänge durch Gruppendynamiken wird hier bewusst genutzt.
- Kampagnen bedienen sich immer der Komplexitätsreduktion, so dass maßgebliche Fakten oft verloren gehen. Je bereitwilliger Fakten unterschlagen werden, um den Rezipienten in seiner Bewusstseinsbildung bzgl. eines Themas zu beeinflussen, als desto manipulativer muss die Kampagne bewertet werden.
- Bewusstseinsbildung im Internet ist aufgrund der herrschenden Kommunikationsmechanismen generell anfällig für Fehlinformation und Manipulation.
- Die Grenzen zwischen Aufklärung, Provokation und bewusster Manipulation sind indes fließend. Oft wird mithilfe einer Inszenierung durch Bild- und Bewegtbildinhalte der intellektuelle Prozess des Rezipienten, hier verstanden als kritische Prüfung der Faktenlage, verdrängt oder unterdrückt. Dies entspricht einem taktischen Vorgehen, um die Multiplikationsmöglichkeiten von Inhalten im Internet, insbesondere wie sie soziale Netzwerke bereitstellen, auszunutzen und eine möglichst rasante Verbreitung zu provozieren. Seriöses Social Campaigning versucht so wenig manipulativ wie möglich zu wirken, da dies mit einem vehementen Reputationsverlust der jeweiligen Kampagneninitiatoren einhergeht. Die Bezeichnung Propaganda ist in diesem Zusammenhang nicht angebracht: „Propaganda describes mass influence through mass media in which a group also has total control over the transmission of information.“[43]
- Die gleichen Mechanismen, die für Campaigning instrumentalisiert werden, können auch von anderen Nutzern als Korrektivfunktion genutzt werden, um manipulative Prozesse sichtbar zu machen. Wird eine Kampagne als manipulativ entlarvt, kann es zu einer weiteren epedemischen Ausbreitung kommen. Auch Korrekturbemühungen lassen sich als Kampagne inszenieren.
Online-Kampagnen werden mittlerweile in nahezu allen Bereichen eingesetzt, gleich, ob es sich um die politische, soziale oder wirtschaftliche Sphäre handelt. Eine wesentliche Zäsur stellt der Umstand dar, dass Campaigning im Internet kostengünstiger ist und bereits bestehende, hochaktive Kommunikationsnetzwerke wie Facebook oder Twitter für Kampagnen instrumentalisiert werden können. Im Rahmen der Interviews herrschte allgemeiner Konsens darüber, dass eine reine Online-Kampagne, die nicht medienübergreifend geplant ist, also in der Online-Sphäre verhaftet bleibt, keine Aussichten auf Erfolg hat. Das hängt mit der sog. Aufmerksamkeitsökonomie zusammen. Die Kernmechanismen von On- und Offline-Campaigning differieren hinsichtlich ihrer Zielsetzung zwar nicht sonderlich, doch bringt die Verwendung von Online-Medien ihre spezifischen Probleme mit sich. Themen im Internet sind höchst volatil. Stündlich werden Internet-Hypes generiert, Trends, Gerüchte und Ideologien wuchern nur so in den sozialen Netzwerken und verflüchtigen sich anschließend genauso schnell, wie sie entstanden sind. Um eine Nachhaltigkeit bzw. einen Gedächtniseffekt zu erzeugen, ist ein Mediensprung in Form von Offline-Aktionen von fundamentaler Wichtigkeit. Ziel einer jeden Kampagne, die einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel herbeizuführen versucht, ist die Transformation einer Online-Masse in eine Offline-Masse.[44]
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[1] Viralisierung ist ein Begriff, der aus dem Marketing kommt. Viralisierung steht dabei für die Informationsverbreitung innerhalb kürzester Zeit von Mensch zu Mensch, angelehnt an eine Epidemie, die durch einem biologischen Virus ausgelöst wird.
[2] vergl.: Doesinger, Stephan 2012: Der veröffentlichte Raum. Berlin: Merve Verlag: S. 75: “Sie schaffen eine Architektur des Blicks, ausgehend vom unbeweglichen Beobachter.“
[3] Ein Gatekeeper (Pförtner) im Medienbereich entscheidet, welche Nachrichten in den Medien erscheinen.
[4] Ein interessanter Beitrag zum Verhältnis von Medien und Politik findet sich in Meyer, Thomas 22.05.2002: Mediokratie – Auf dem Weg in eine andere Demokratie? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 15-16/2002), Medien und Wahlkampf. Online. (16.10.2012)
[5] Salvadori, Rubens (o. J.): Photography <http://www.rubensalvadori.com> (29.03.2012)
[6] ebd.
[7] ebd.
[8] vergl. Interview 37
[9] vergl. ard-zdf-onlinestudie.de: Grundcharakteristik der MedienNutzerTypologie 2.0
[10] Andrews, Marc 2008: Social Campaigns: Art of Visual Persuasion: Its Rethoric, its semiotics, its rhethoric. (22.03.2012)
[11] ebd.: S. 28
[12] vergl. Fallstudie in Kapitel 4
[13] Wikipedia (o. V.) 2012: Social Marketing (22.03.2012)
[14] vergl. Initiative D21 2011: (N)Onliner Atlas 2011: Eine Topographie des digitalen Grabens durch Deutschland. (22.03.2012)
[15] statista (o. V.) 2011: Beliebteste Videoportal on Deutschland nach Besucherzahl. (22.03.2012)
Frees, Beate und van Eimeren, Brigit 2011: Bewegtbildnutzung im Internet 2011: Mediatheken als Treiber. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2011. In: Media Perspektiven 7-8/2011: S. 350 – 359. (22.03.2012)
[17] vergl. Socialbaker 2012: Facebook Statistics by Country. (22.03.2012)
[18] vergl. allfacebook (o. V.) 2012: Facebook Nutzerzahlen. (22.03.2012)
[19] vergl. comScore 2011: It’s a Social World: Top 10 Need-to-Knows About Social Networking and Where It’s Headed. (22.03.2012)
[20] Doesinger, Stephan 2012: Der veröffentlichte Raum. Berlin: Merve Verlag: S. 86
[21] INVISIBLE CHILDREN 2012: KONY 2012: INVISIBLE CHILDREN. (22.03.2012)
[22] vergl. YouTube (invisiblechildreninc) 05.03.2012: KONY 2012. (22.03.2012)
[23] Fairey, Sheapard 2008: Obama Hope. (23.03.2012)
[24] Fairey, Sheapard 2012: KONY 2012. (23.03.2012)
[25] vergl. YouTube (invisiblechildreninc) 05.03.2012: KONY 2012.
[26] vergl. Facebook 2012: KONY 2012. (23.03.2012)
[27] vergl. Facebook 2012: Invisible Children. (23.03.2012)
[28] vergl. Twitter 2012: Invisible Children. (23.03.2012)
[29] YouTube (invisiblechildreninc) 05.03.2012: KONY 2012.
[30] SocialFlow (Lotan, Gilad) 14.03.2012: [Data Viz] KONY2012: See How Invisible Networks Helped a Campaign Capture the World’s Attention. (23.03.2012)
[31] vergl. Twitter 2012: Justin Bieber. (23.03.2012)
[32] vergl. Twitter 2012: Sean Combs. (23.03.2012)
[33] vergl. Twitter 2012: Rihanna. (23.03.2012)
[34] „Ellen Degeneres (@TheEllenShow), for example, saw over 36,000 mentions from different users pleading her to respond to the cause. So did Justin Bieber, Lady Gaga, Oprah and Taylor Swift, amongst many others.“ In: SocialFlow (Lotan, Gilad) 14.03.2012
[35] vergl. ZEIT ONLINE (Endres, Alexandra) 09.03.2012: Kony 2012 jagt den Falschen. (23.03.2012)
[36] vergl. ZDF Hyperland (Endert, Julius) 08.03.2012: Kony 2012 oder die erste Online-Treibjagd auf einen Verbrecher. (23.03.2012)
[37] vergl. der Freitag (Knobloch, Peter) 14.03.2012: Kolumne #14 – Kony 2012: Was zählt, ist die Story. (23.03.2012)
[38] vergl. YouTube (slubogo) 07.03.2012: Kony 2012 Video is Misleading. (23.03.2012)
[39] Siehe Tumblr (goldofcortes) 2012: Visible Children: KONY 2012, viewed critically. (10.04.2012)
[40] Siehe Uganda 2012: Home. (10.04.2012)
[41] Siehe Uganda 2012: Who We Are. (10.04.2012)
[42] vergl. Al Jazeera (o. V.) 2012: Uganda Speaks. (23.03.2012)
[43] Andrews 2008: S. 8.
[44] vergl. Interview 23