Der Begriff Netzkultur ist mittlerweile ein geflügeltes Wort geworden. Zunächst lässt der Begriff den Schluss zu, dass das Internet ein Gestaltungsraum ist, in dem Menschen aktive Handlungen vollführen, die zur Ausprägung eines kulturellen Gefüges im Virtuellen beitragen. Dabei ist zu beachten, dass es sich hier nicht um einen Raum im eigentlichen, physischen Sinne handelt. Diese Entkörperlichung scheint zwar evident, die dadurch veränderten Bedingungen sind jedoch bei weitem nicht allgemeiner Konsens, was die vielfältigen, der Offline-Sphäre entlehnten Analogien verdeutlichen, mit Hilfe derer immer wieder versucht wird, die Netzkultur in ein tradiertes Deutungsmuster zu überführen. Die zahllosen Netzwerke und Anwendungen innerhalb des Internets, durch die Nutzer in die Lage versetzt werden, mit anderen Nutzern zu kommunizieren, sich zu organisieren und sogar politischen Druck aufzubauen, gleichen eher einer unendlichen Zahl sich ständig wandelnder, kaleidoskopischer Formen, in der sich jede Form auf die andere bezieht, aus ihr hervorgeht und die vorige verdrängt – ein hochvolatiles, emergentes und disruptives Konstrukt. Ähnliches gilt für den Begriff Kultur, der im eigentlichen Sinne seiner Bedeutung die kontinuierliche Veränderung des vorliegenden „kulturellen“ Materials meint. Kultur wird hier also als ein Prozess permanenter Umstrukturierung, Neuordnung und Fortschreibung bestehender gesellschaftlicher Muster verstanden.
In Kapitel 1.2 Digitalisierung der Gesellschaft wurden bereits die notwendigen Bedingungen für die Entstehung des Internets als ein kulturelles Gefüge kurz betrachtet. Die Grundlagen einer lebendigen Netzkultur sind in dem vorliegenden Zusammenhang die vielfältigen Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten der Nutzer innerhalb der technologischen Struktur des Internets. Aus diesen neuen Möglichkeiten ergibt sich auch die grundlegende Frage nach einem Potenzial für gesellschaftspolitische Veränderung im realen Raum.
Wenn nun die Rede von Raum ist, muss vorangestellt werden, dass es sich um einen veröffentlichten Raum handelt, in dem jedes Kommunikat Teil einer medialen
(Selbst-)Inszenierung durch den Nutzer ist. Im Rahmen der Internet-Tsunamis stellen diese Kommunikate zunächst nichts anderes als sinnstiftende, mediale Inhalte dar, aufgelöst im Binärcode und damit für die Weiterverarbeitung im Internet zur Verfügung gestellt. Die Beschaffenheit und hochbeschleunigte Verbreitung solcher themenbezogener Inhalte, die von Nutzern erstellt, distribuiert und multipliziert werden, sind der primäre Untersuchungsgegenstand der nachfolgenden Kapitel. Inhalte werden im Folgenden als Informationen betrachtet, die einen konkreten Nutzwert, eine konkrete Funktion besitzen. Wie müssen diese Inhalte konstruiert sein, damit sie von Nutzern aufgegriffen und multipliziert werden, so dass es zur Auslösung von Informationskaskaden kommt? Sind diese Inhalte Zufallsprodukte oder Teil einer strategischen Operation? Ist das Internet hier singulär zu betrachten oder handelt es sich lediglich um einen Teil des bestehenden Mediensystems, in dem es zu massiven Wechselwirkungen kommt? Und welche Mechanismen kommen im Internet primär im Zusammenhang mit einem Massenkommunikationsphänomen wie dem Internet-Tsunami zum Tragen?