Das folgende Kapitel subsumiert die Aussagen der Interviewten im Zusammenhang mit den Auswirkungen des Internets auf die Gesellschaft.
Das Internet verändert Verhaltensweisen und -normen
Innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten hat das Internet Einzug in fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens gehalten. Verschiedene Interviewte nannten das eine kulturelle Revolution, die durch die Veränderung der Kommunikationsmittel ausgelöst wurde und nachhaltigen Einfluss auf die Kommunikation selbst hat. Die kommunikativen Möglichkeiten determinieren, wie sich Gesellschaft organisiert. Diese befinden sind nun in einem nie dagewesen Wandel. Viele Interviewte waren sich einig, das Internet verändere die Gesellschaft in ähnlichem Maße wie der Buchdruck oder das Fernsehen. Neue Produktions- und Lebensweisen bilden sich heraus, die direkte Auswirkungen auf die Art und Weise haben, wie sich Gesellschaft konstituiert. Einer der Interviewten machte diese Veränderung an einem zunehmenden Wandel der Wertesysteme fest. Die politische Verortung zwischen Mitte, Rechts und Links sei vielfach nicht mehr zutreffend und ungenau. Die neue politische Demarkationslinie verläuft nicht zwischen den traditionellen politischen Strömungen, sondern zwischen Positionen des Materialismus und Postmaterialismus. Für den Interviewten stelle diese den fundamentalen Konflikt unserer Gesellschaft dar. Die Bundesdeutsche Gesellschaft wurde im Rahmen desselben Interviews als aus 55 % Materialisten und 45 % Postmaterialisten bestehend eingeschätzt. Wertvorstellungen leiten sich demnach von Beziehungen zu Besitz und nicht mehr von politischen Strömungen ab. Für Materialisten seien Besitz, Einkommen und Sicherheit die primär erstrebenswerten Modelle. Postmaterialisten hingegen stufen die persönliche Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben und die Möglichkeit auf Selbstverwirklichung als die fundamentalen Werte ein. Die Trennlinie sei allerdings nicht scharf und könne durch familiäre wie berufliche Situationen beeinflusst werden. Grundsätzlich erkläre sich durch diese Wertedifferenz auch die Veränderung der Parteienlandschaft. Die traditionellen Volksparteien bedienen sich noch primär materialistischer Wertevorstellungen, wohingegen jüngeren Parteien wie die Grünen und die Piraten stärker in einem postmaterialistischen Gedankengut verankert sind.
Veränderte Lebenswelten und Wertevorstellungen führen zu neuen politischen Forderungen. Die Möglichkeit zur politischen Kommunikation sei heute einfacher und günstiger als jemals zuvor, was demokratietheoretisch eine ganz große Chance darstelle, so einer der Interviewten. Das Internet ermögliche „ein mehr“ an Partizipation und Sachlichkeit, denn als Bürger könne man sich grundsätzlich differenzierter mit Themen auseinandersetzen. Das Internet biete (1) vielfältige Informationsquellen, (2) neue Organisationsformen, in dem durch Netzwerke und Themenplattformen neue Kooperationsmöglichkeiten eröffnet werden und (3) eine neue Qualität des gemeinsamen Austauschs, das sog. „Mitmach-Web“.
Auf der anderen Seite führe die zunehmende Beschleunigung im Informationsaustausch zu einer Abnahme an Reflexionsmöglichkeiten. Es bestehe die Gefahr, dass Entscheidungsprozesse vorschnell abgekürzt und Entscheidungen auf emotionaler Basis getroffen werden. Menschen können zwar heute zum Teil Politik in Echtzeit mitverfolgen, allerdings können sie keine Politik in Echtzeit mitgestalten. Da dies aber nicht kommuniziert werde, entstehen falsche Vorstellungen und Hoffnungen, so einer der Interviewten. Eine weitere Gefahr bestehe darin, dass bestimmte soziale Gruppen und Milieus ihre Interessen prominenter artikulieren können als andere und damit an Einfluss gewinnen. Dies ist allerdings eine Grundproblematik von Demokratie, unabhängig jeglicher On- und Offline-Logik.
Die digitale Spaltung (engl. digital divide) sei nicht nur zwischen Internetnutzern und Nichtinternetnutzern ein kritischer Punkt, sondern vor allem zwischen denen, die das Internet ausschließlich zum Konsum und für private Zwecke nutzen und jenen, die im Internet politisch aktiv sind. Letztere sind oftmals versierter im Umgang mit den technischen und kommunikativen Werkzeugen des Internets.
Das Entstehen einer neuen Protestkultur
Viele der Interviewten beobachteten das Aufkommen einer neuen globalen Protestkultur innerhalb der letzten Jahre. Waren das Internet und soziale Bewegungen bereits gegen Ende der 90er Jahre ein relevantes Thema, insbesondere im Rahmen der Antiglobalisierungsproteste um „Battle for Seatle“ mit einer tendenziell negativen Medienberichterstattung, so gab
der arabische Frühling Straßenprotesten eine positive Konnotation. Die verstärkte Medienaufmerksamkeit und Protestbilder, die um die Welt gingen, bewirkten Nachahmungseffekte, sowohl in der Region als auch global. Zum Beispiel beziehe sich die Occupy-Bewegung direkt auf die Straßenproteste im arabischen Raum, so einer der Interviewten.
Essentieller Bestandteil dieser Protestkultur sei ein neues Verständnis für die Medien. Die Protestler schaffen sich über Blogs und soziale Netzwerke ihre eigenen Publikationskanäle und läuten damit das Ende der Broadcast-Ära ein. Der grundsätzliche Vertrauensverlust in die klassischen Medien treibe diesen Trend weiter voran. Neu sei auch die Qualität der Proteste.
Es gehe nicht nur darum gegen etwas zu protestieren, sondern auch aktiv Gestaltungsvorschläge einzubringen, so ein anderer Interviewpartner.
Neben neuen Wegen der Publikation sei die Rolle von sozialen Netzwerken hinsichtlich der Massenmobilisierung und Protestorganisation entscheidend. Die Kommunikation über soziale Netzwerke fördere die Bildung kritischer Massen, (1) da sie einen Schutzraum biete, in dem man sich „unbeobachtet“ fühle und echten Leidensdruck artikulieren könne, (2) man träfe andere mit gleicher Gesinnung und könne sich austauschen, Mut und Bestätigung zusprechen und (3) durch die Geschwindigkeit des Austauschens im Internet sei eine Echtzeitorganisation möglich, die den Organisationsformen der „traditionellen“ Opposition weit überlegen sei. Wichtig an diesem Mechanismus sei, dass jeder Einzelne sich einer Anzahl von Menschen vergewissern könne, die mit ihm zusammen den Protest artikulieren. Diese Vergewisserung sei enorm wichtig, da erst, wenn sich eine kritische Masse bildet, die Polizeiapparate und Geheimdienste (hier Revolution in Nordafrika) überfordert werden und für die Sicherheit der Einzelnen garantiert werden könne. Der Schutz durch die Masse, die Bildung der kritischen Masse, werde vorher durch digitale Kommunikation gewährleistet. Durch die vorherige Zusage würde so die Wahrscheinlichkeit steigen, dass ein Protest zustande komme. Die digitale Masse diene daher als vorgebildete Realmasse. Im virtuellen Raum existiere die Freiheit, kritische Massen mit hoher Geschwindigkeit zu organisieren sowie durch den Austausch den Mut zu fördern, um die virtuelle Masse in eine reale zu überführen.
Diskrepanz von virtueller und realer Beteiligung
Allerdings wäre es eine Illusion, so einer der Interviewten, wenn man von reinen Online-Zahlen direkt auf eine reale Beteiligung schließen würde. Erst, wenn die Leute auf die Straße gehen und sich tatsächlich zu erkennen geben, hätten die Zahlen Relevanz. „Netzstimmen“ seien relativ wenig wert, es gebe keine Übereinstimmung von Online-Crowds und Real-Crowds. Physis und Zeugenschaft existieren im Internet nicht; man werde lediglich projiziert. 50.000 Klicks auf „Ich mag Guttenberg“ kann man zwar unwidersprochen bestätigen, aber dies entspräche keinem realen Wert. Reale Anwesenheit sei ein Faktor, der nicht durch ein IT-Programm zu ersetzen sei.
Gerade bei internetaffinen Gruppierungen herrsche hier eine grobe Fehleinschätzung, die reale Entsprechung einer Beteiligung werde unterbewertet und dementsprechend die virtuelle überbewertet. Wohl referiere die Medienlandschaft auf solche Gruppen, wenn es opportun erscheine. Eine breite mediale Berichterstattung fände allerdings nur bei Offline-Massenphänomenen statt. Das Problem der Online-Massen sei die Anonymität, da sich die Zahlen nicht durch echte Personen belegen lassen, so ein Interviewpartner.
Motivation, Beteiligung und das Internet
Einer der Interviewten führte aus, dass 30 % der Bevölkerung nicht an Bürgerentscheiden interessiert seien und auch nicht daran teilnehmen. Bei Wahlen lege die Zahl der grundsätzlichen Verweigerer bei rund 10 %, wenn Bürgerentscheide ausschließlich im Internet stattfinden würden, wären dies gar
55 %.
Ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg bzw. Misserfolg der Massenmobilisierung sei die persönliche Betroffenheit. Es sei schwierig Aufmerksamkeit auf ein politisches Anliegen zu lenken, wenn es nicht eine kritische Masse an Menschen gäbe, die das Thema bewegt und die sich dafür engagieren. Je größer die Betroffenheit, desto größer sei auch das Engagement der Beteiligten. Emotionen spielen hierbei eine entscheidende Rolle.
Des Weiteren zeige sich, so verschiedene Interviewte, dass das Internet keine Massenmobilisierung auslöse, wohl aber die Massenmobilisierung kommunikativ unterstützen könne. Das Internet sei damit Instrument aber nicht selbst der Mobilisator, so einer der Interviewten.
Öffentlichkeit im Internet
Auf die Frage, was Öffentlichkeit im Internet bedeute und wie eine mögliche Definition aussehen könne, gingen die Antworten der Interviewten weit auseinander. So erläuterte einer der Interviewten, Facebook und Twitter seien öffentliche Räume mit Zensurfunktion. Kritisch sei hierbei, dass Facebook, Twitter aber auch Apple per „Terms and Conditions“ bestimmen, was veröffentlicht bzw. verkauft werden darf und was nicht, d. h. Inhalte können entgegen der jeweiligen nationalen Gesetzeslage zensiert werden. Das Beispiel eines Stern-Covers im Apple Store wurde angeführt, auf Grund dessen Apple die Stern-App zensierte, da auf dem Coverbild eine entblößte Frauenbrust zu sehen war. Die Schwierigkeit des Sachverhalts liege hierbei in der Übertragung von offline geprägten Öffentlichkeitsdefinitionen in die Bereiche des Internets. Facebook sei einerseits ein Raum der privatwirtschaftlich organisiert wird und einer amerikanischen bzw. in Europa einer irischen Gesetzeslage unterliegt, aber andererseits auch ein gewisses Maß an politischer Öffentlichkeit erzeugt. Definitionen nach Hanna Arndt oder Jürgen Habermas würden aus juristischen, ökonomischen aber auch wertebezogenen Verständnissen heraus nicht mehr zutreffen. Die Auffassung des öffentlichen Raums verändere sich. Eine Veränderung, die man auch an Orten wie Shopping Malls, Flughäfen oder Bahnhöfen beobachten könne. Es sei eben nicht mehr alles nationalstaatlich organisiert, was Öffentlichkeit betreffe. In zunehmendem Maße gebe es Hybridformen sowie eine globale Öffentlichkeit. Der öffentliche Raum hänge von den Menschen ab, die den Raum gestalten und nicht von denjenigen, die den Raum bereitstellen.
Ein anderer Interviewpartner meinte, es gebe nicht die Öffentlichkeit, sondern viele Teilöffentlichkeiten. Bei Facebook sei dies zum Beispiel davon abhängig, wer bestimmte Inhalte sehen könne und wer nicht. Die Differenzierung zwischen Online- und Offline-Öffentlichkeit sei zudem heute einfach nicht mehr haltbar.
Ein weiterer Interviewter versuchte politische Öffentlichkeit wie folgt zu definieren: Es handle sich um einen Bereich, in dem sich Bürger eines Landes an der politischen Willensbildung beteiligen. Ein politischer Raum, sei der Raum, in dem Menschen, die es angeht, Dinge besprechen und diskutieren, die in irgendeiner Form in einem politischen Prozess beschlossen werden müssen. In Nordafrika gehe es um eine neue Form des Regierens, welche Rechte die Bürger in einem zukünftig demokratischen Staat haben. Es könne aber auch um kleinteiligere Themen, wie zum Beispiel die wissenschaftlichen Standards für Doktorarbeiten gehen, wie dies im Fall Guttenberg geschehen ist.
Digitale Identitäten
Das Internet würde die Ausbildung multipler Identitäten fördern, so ein Interviewpartner. Es gebe sehr große Einflüsse durch das Digitale auf das Selbst des Menschen. In der Politik sei dieser Zusammenhang noch nicht erkannt worden, denn die Unterscheidung zwischen digital und real sei grundlegend falsch. Eine solche Aussage käme aus dem analogen Denken. Die Digitalisierung habe auf die Persönlichkeitsentwicklung Einfluss, sie sei nicht wie das Fernsehschauen lediglich ein Ein- und Ausschalten. Die Digitalisierung erfordere neue Herangehensweisen – und dies sei für Menschen erfahrungsgemäß schwer. Der Mensch orientiere sich in der Regel nach Vorbildern, bei der Digitalisierung funktioniere dieses Vorgehen nicht mehr.
Anonymität und Pseudonymität
Kontroversen gab es bezüglich der Frage nach Anonymität im Internet. Ein der Interviewten meinte, ein Pseudonym sei keine Manipulation. Jeder Name sei letztlich ein Pseudonym für eine DNA. Wenn man sich allerdings bewusst für eine andere Person ausgebe, dann wäre dies Manipulation. Die Manipulation lege aber nicht am Pseudonym an sich, sondern an dem Verhalten der dahinterstehenden Person. Pseudonyme funktionieren im klassischen politischen Kontext eigentlich nicht, so der Interviewte weiter, dort wären es eher authentische Pseudonyme, die einer Person zugeordnet werden können. Es gehe dabei um die Zurechenbarkeit, nicht die einzelnen Attribute, wie Name, Herkunft oder Ähnliches. Wenn jemand unter einem Pseudonym immer „wichtige“ Beiträge schreibe und diese mit einer Historie verbinde, dann sei der Name egal.
Ein anderer führte aus, durch die Anonymität haben viele Menschen in der ersten Phase des Internets den Eindruck gehabt, man könne sich anders, weniger moralisch verhalten, als man sich im realen Leben verhalte.
Es sei allerdings so, dass jeder, der an einer wirklichen Öffentlichkeit im Internet partizipieren möchte, seine Privatsphäre aufgeben müsse. Alles, was digital erfasst werde, sei ohnehin abrufbar. Mehr Öffentlichkeit ins Internet zu bringen sei wünschenswert. Dafür müsse man dann aber auch seine Identität ins Internet bringen und sich seinen Ängsten stellen, ähnlich wie man auch seine Sicherheit aufgibt, wenn man zu Protesten auf die Straße geht. Es sei die Pflicht jedes Einzelnen, dieses Risiko einzugehen. Öffentlichkeit und öffentlicher Raum bedinge Verbindlichkeit. Das reale Miteinander-am-Tisch-sitzen brauche eine virtuelle Entsprechung.