Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Äußerungen der Interviewten, zu den Veränderungen im Mediensystem, die durch das Internet hervorgerufen wurden. Darüber hinaus geht es um die Rolle der Medien innerhalb des zu betrachtenden Phänomens der Internet-Tsunamis.
Das Mediensystem im Wandel
Die historische Entwicklung des Mediensystems der letzten 200 Jahre basiert auf dem Modell der Massenmedien. Dieses zeichnet sich durch feste Strukturen und eine hierarchische Organisation aus, mit wenigen Sendern und vielen Empfängern, in dessen Mittelpunkt eine Gruppe von Medienberichterstattern (Journalisten und Redakteure) bestimmt, was für Nachrichten veröffentlicht werden bzw. welche Form diese haben. Professioneller Journalismus wurde zum Garant für Qualität und dominierte die Nachrichtenberichterstattung. Nachrichten wurde mit Journalismus gleichgesetzt.
Das Aufkommen des Internets veränderte das Verständnis von Nachrichten und weicht die Monopolstellung der Medienberichterstattung auf. Angefangen mit Blogs und durch die Entwicklung der sozialen Medien werden Nachrichten heute vermehrt zu einer persönlichen Erfahrung, die untereinander geteilt wird. Relevante und wichtige Nachrichtenbeiträge werden den jeweiligen eigenen sozialen Kontakten weiterempfohlen und bekommen somit ein persönliches Gütesigel, abhängig von der Reputation des Empfehlenden. Die Welt der Medien heute ist offener und pluralistisch, da Nachrichten vermehrt horizontal und weniger von oben nach unten (top-down) durch das Netzwerk fließen, so einer der Interviewpartner.
Neue Akteure treten in Erscheinung – tradierte Rollenbilder ändern sich
Publishing-Tools wie WordPress und Blogger ermöglichten es, einer breiten Bevölkerung selbst zu publizieren, ohne ein tieferes technisches Wissen oder Programmierungsfähigkeiten haben zu müssen. Der Blogger kristallisierte sich als neuer Rollentypus heraus. Dieser ist gleichzeitig Autor, Herausgeber und Verteiler seiner eigenen Werke. Viele Blogs beschäftigen sich mit privaten Themen, verlieren sich in den Untiefen des Internets und kommen über ein paar wenige Rezipienten nicht hinaus. Es gibt aber auch einige, die eine feste Rolle im Mediensystem eingenommen haben, Einnahmen generieren, Mitarbeiter anstellen und letztlich einer journalistischen Tätigkeit nachgehen. Ein Interviewpartner brachte es diesbezüglich mit folgender Formulierung auf den Punkt: „Ich neige nicht dazu, die Welt der Publizierenden in Profis und Nicht-Profis zu unterteilen. Es gibt seriöse Blogger, Leute die Handy-Videos veröffentlichen und es gibt Lügner unter Journalisten.“ Die Menschen haben erkannt, dass sie nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren und kommentieren können.
Eine interessante Perspektive auf die Blogosphäre eröffnete einer der Interviewten, der meinte, die Blogosphäre neige dazu, tendenziell unausgewogen und stark polarisierend zu sein. Dies erkläre sich dadurch, dass es sich oftmals um Überzeugungstäter handeln würde, die eben bewusst ihre persönliche Meinung vertreten und verbreiten. Dies ist natürlich ihr gutes Recht, denn sie unterwerfen sich keinem journalistischen Kodex. Er meinte ergänzend allerdings, man solle Medien, soziale Netzwerke und Blogosphäre gleichermaßen für glaub- bzw. unglaubwürdig befinden, denn grundsätzlich würde es immer gelten, eine kritische Haltung einzunehmen.
Nach anfänglicher Unsicherheit erweiterten viele der traditionellen Medienanbieter ihre Produktpalette um Online-Angebote. Laut einiger Interviewpartner sind aber insbesondere in Deutschland die Redaktionen on- und offline völlig voneinander getrennt. Die Wechselwirkung scheint dabei einseitig zu verlaufen, Medieninhalte, die in der Printversion veröffentlicht werden, haben zumindest die Chance auch online zu gehen, hingegen gehen Online-Publikationen in aller Regel nicht in eine Printversion.
Online-Medien zeichnen sich durch eine andere Produktionstaktung aus, Inhalte müssen Stunden, besser minutenaktuell sein. Der kontinuierliche Zeitdruck ist für Online-Redaktionen immens, dabei kommt ihnen durch die Geschwindigkeit in zunehmendem Maße die Rolle des Agenda-Setters innerhalb des Mediensystems zu. Andere Medien nehmen die Impulse der Online-Medien wiederum auf und nutzen diese für ihre eigene Berichterstattung.
In diesem Zusammenhang wandelt sich auch die Rolle des Journalisten bzw. der neue Typus des Online-Journalisten kristallisiert sich heraus, mit entsprechend neuen Anforderungen und Fähigkeiten. Waren Journalisten gewohnt vorzugeben, was rezipiert wird („we right, you read“), so führt das veränderte Medienangebot mit Blogs und sozialen Netzwerken zu einem neuem Rezeptionsverhalten. Die journalistische Deutungshoheit über Relevanz von Meldungen verändert sich hin zu einem partizipativen Ansatz. Medienberichterstattung erfolgt in Zusammenarbeit mit Rezipienten, die Einflussposition von Journalisten löst sich damit nicht auf, sondern transformiert sich. Online-Journalisten begeben sich in soziale Netzwerke und nutzen diese als Kommunikationsmedium, um in den direkten Kontakt mit Rezipienten zu gelangen. Die Attraktion für Online-Medien steigt dabei, so wurde uns gesagt, denn der Rückkanal führt zu einer qualitativen Verbesserung journalistischer Tätigkeit. Allerdings macht diese Offenheit auch angreifbar, Falschmeldungen werden schnell entlarvt und veröffentlichte Meinungen lautstark konterkariert.
Innerhalb der Redaktionen und Medienhäuser kommt es wiederum zu einem Generationenkonflikt, der sich als Kulturkampf entpuppt. Hier stehen sich Journalisten alter Schule und eine jüngere Generation internetaffiner Journalisten, die die Mechanismen des Internets automatisch berücksichtigen, gegenüber. Es scheint, so die Aussagen einiger Interviewten, dass die erste Gruppe vielfach Abwehrmechanismen aufbaut, da man sich in den Gefilden des Internets und der sozialen Netzwerke nicht auskennt und folglich Angst um die individuelle Reputation hat. Zu dem geht man davon aus, dass durch das Internet die traditionellen Medien kanalisiert werden und letztlich seien „diese“ jungen Leute, mit ihrer „Downlowd- und Kostenloskultur“ nicht zu verstehen. Auf der anderen Seite geben Großdemonstrationen, wie gegen ACTA oder das Zugangserschwerungsgesetz (Zensursula-Kampagne), Journalisten der zweiten Gruppe die Möglichkeit, internes Agenda-Setting zu betreiben und Themen zu platzieren, die sonst eher weniger oder später den Eingang in die Medienberichterstattung fänden.
Zum Verhältnis Offline- und Online-Medien
Einer der Interviewten stellte berechtigt die Frage, wie lange man die Neuen Medien noch „neu“ nennen möchte? Vor diesem Hintergrund wurde in der Überschrift die Unterscheidung Offline- und Online-Medien gewählt. Aus Sicht verschiedener Interviewter hat jedes Medium die Pflicht sich des Rauschens im Internet anzunehmen. Dies falle vielen Medien- und Zeitungshäusern sehr schwer. Der zweite Schritt sei, das dort Wahrgenommene zu bewerten. Dabei gibt es scheinbar eine Art natürliche Arbeitsteilung. Soziale Medien sind schnellere Transmissionsriehmen (insbesondere Twitter), durch diese werden aktuelle, teilweise auch plötzliche Meldungen als erstes übertragen. Die traditionellen Medien sorgen dann für die Verifikation der Meldungen. Diese Ansicht wurde vielfach gestützt. Eine belastbare Glaubwürdigkeit entstehe erst durch die Bearbeitung bzw. Verifikation durch die traditionellen Medien. In gleichem Maße gelte dies für die breite gesellschaftliche Durchdringung von Themen. Erst wenn die großen etablierten Mainstream-Medien berichten wird ein Thema für die Breite der Gesellschaft relevant.
Ein immer wieder in den Interviews aufgekommenes Thema ist das der Medienökonomie. In den meisten Redaktionen gibt es scheinbar Diskussionen über das Verkaufen von Inhalten. Redakteure, Schreiber und Autoren sind in der Regel zurückhaltender als die letztlich veröffentlichten Headlines vermuten lassen. Facebook- und Twitter-Revolution sind von Medien gebildete Schlagwörter, die dem Verkauf plakativer Themen dienen, um die Absatzzahlen anzukurbeln. Der Nutzwert der Nachrichten ist also ein primär wirtschaftlicher. Dieser Trend wirkt sich insbesondere auf Online-Medien aus, bei welchen Erfolg und Rückkopplung über Klickzahlen gemessen wird. Aus der Sicht eines der Interviewten führe dies zu einem Boulevardisierungsprinzip und einem Verfall der journalistischen Qualität. Gut recherchierter und investigativer Journalismus sei immer seltener vorzufinden, es fehle sowohl an Zeit als auch an finanziellen Mitteln. Im zunehmenden Maße herrsche daher eine Sekundärverwertungskultur, mehr noch, er gehe davon aus, dass von 40.000 Journalisten nur noch ein paar hundert primärrecherchefähig seien. Eine möglicherweise überspitzte Aussage, was jedoch von mehreren Interviewten bestätigt wurde, sind schrumpfende Redaktionen, kleinere Mitarbeiterstäbe und ein erhöhter Kostendruck. Die Korrespondentenstruktur der TV- und Printmedien erfuhren in den letzten zehn Jahren eine grundlegende Veränderung. In Folge dessen haben z. B. nur noch die Öffentlich-Rechtlichen als einige der wenigen Medienhäuser ein internationales Korrespondentennetzwerk. Andere Medienhäuser hingegen sind gezwungen auf Sekundärmeldungen von Presseagenturen zurückzugreifen. Letztendlich entsteht so ein Zitierkartell, unter welchem die Qualität des Journalismus und der Berichterstattung erheblich leidet.
Ein brisantes Thema in diesem Zusammenhang ist die Quellenverifikation. In zunehmendem Masse greifen die traditionellen Medien auf Quellen zurück, die letztlich nicht 100 % verifiziert werden können, da es sich um UGC handelt. Man denke an verwackelte Handybilder aus Syrien, die es bis in die Tagesthemen geschafft haben. Ein Interviewpartner führte aus, Bildquellen, wenn sie nicht solide sind, weil keine anderen Quellen zur Verfügung stehen (Bsp. Internet-Videos), müssen entweder dementsprechend gekennzeichnet werden oder eine sprachliche Kennzeichnung durch die Verwendung des Konjunktivs erfahren. Ein anderer fügte hinzu, dass es eigentlich keinen Unterschied zu vor 20 Jahren gebe, man denke nur an die Berichterstattung der zwei Golfkriege, in deren Rahmen Journalisten Teil eines „durch orchestrierten Propagandakrieges“ waren. Jede seriös erarbeitete journalistische Leistung wurde einfach weggefiltert. Dies lag jedoch nicht daran, dass die Journalisten nicht glaubwürdig arbeiten wollten, sondern dass ihnen gar keine andere Möglichkeit geboten wurde. Letztlich können aber gewisse Schwachstellen in der Quellenverifikation nicht geleugnet werden. So forderte eine britische Medienanstalt ihre Leser auf, Bilder von aktuellen Waldbränden in Großbritannien einzusenden. Letztlich schmuggelten sich in die Auswahl auch Bilder von Waldbränden in den USA, die fälschlicherweise publiziert wurden.
Ein scheinbar gegensätzlicher Sachverhalt wurde von zwei Interviewten ausgemacht. Im Zusammenhang mit dem Aufkommen von UGC und sozialen Netzwerken sei die Marke das entscheidende Kriterium für Medienhäuser, sich von anderen Anbietern zu unterscheiden. Die Glaubwürdigkeit der Marke sei dabei der oberste Qualitätsstandard, an dem Verlässlichkeit und Gewichtung gemessen werde. Aus dieser Perspektive seien Medienhäuser gut beraten, Geschwindigkeit nicht als Dogma, sondern als einen Aspekt von vielen zu behandeln und der journalistischen Sorgfalt oberste Priorität einzuräumen.
Das Wechselspiel on-/offline im Zusammenhang mit den zu untersuchenden Phänomenen
Entscheidend scheint für viele der Interviewten zu sein, dass Medien nicht nur eine Beobachterrolle einnehmen, sondern einen maßgeblichen Einfluss auf die Phänomene haben. Die Occupy-Bewegung wurde durch die Berichterstattung der Medien zu einer weltweiten Bewegung geformt, so einer der Interviewten. Ebenso ist die Rolle von Al Jazeera und BBC eine extrem bedeutende im Arabischen Frühling sowohl zur Dokumentation und Berichterstattung der aktuellen Geschehnisse nach innen wie nach außen, als auch zur Mobilisierung von Menschen aller Schichten.
Ein anderer Interviewpartner führte aus, die traditionellen Medien seien ein Energielieferant, z. B. wären die Chaostage Mitte und Ende der 90er Jahre niemals so gewaltsam gewesen, hätte es nicht eine so große Medienberichterstattung gegeben.
Der Fall Guttenberg scheint für die Wechselwirkung von on- und offline ein besonders gutes Beispiel darzustellen. So wurden die ersten Plagiatsvorwürfe über die Presse publik gemacht. Das Echauffieren über die Gegendarstellung bzw. Leugnung des Ministers wurde anscheinend zum maßgeblichen Impuls für die Entstehung von GuttenPlag Wiki. Verärgert über die Unverfrorenheit Guttenbergs setzte eine Einzelperson das Plagiatsjägersystem GuttenPlag Wiki auf, so einer der Interviewten. Taten sich die Medien anfangs noch schwer damit, die Plagiatsjäger aus dem Internet bildhaft darzustellen, so änderte sich dies grundlegend durch die Nutzung des Barcodes, einem Strichcode mit der Seitenzahl der Dissertation, auf dem farblich alle von Plagiaten versehen Seiten markiert wurden. Anfangs entworfen, um die Arbeit der Plagiatsjäger zu vereinfachen, wurde der Barcode zu dem medialen Sinnbild der Plagiatsvorwürfe. So wurde GuttenPlag Wiki 2011 mit dem renommierten Grimme-Preis ausgezeichnet. Bei der Verleihung las Tim Barthel von Wiki die Namen der vielen tausend Plagiatsjäger vor, die sich an der Plagiatssuche beteiligt hatten. Mehr zur Plagiatsaffäre gibt es in der Guttenberg Fallstudie zu lesen (Kapitel 3.1).
Die Zukunft der Medien
Die Zukunft der Medien wurde unterschiedlich bewertet. Eine größere Gruppe der Interviewten geht davon aus, dass Breitenangebote der Medien zukünftig eine geringere Bedeutung zukommen werden. Insbesondere jüngere Nutzer unter 30 Jahren werden sich ihr Medienangebot aus unterschiedlichen Quellen selber zusammenstellen. Traditionelle Medien sind dann nur noch ein Bestandteil der individualisierten Informationssuche. Die Medienlandschaft werde sich zunehmend fragmentieren.
Ein anderer Interviewpartner geht von zwei verschiedenen Szenarien aus: Entweder komme es zu einer stärkeren Vernetzung der Sphären untereinander oder einem Wiedererstarken der traditionellen Leitmedien.
Einig waren sich die meisten Interviewten allerdings in dem Punkt, dass weiterhin eine deutliche Veränderung auf dem Nachrichten- und Fernsehmarkt auf alle Beteiligten zukommen werde. Eine interessante Fragestellung kristallisierte sich hier heraus: Wenn die traditionellen Medien als Leitmedien abgelöst werden, wer übernimmt dann deren Deutungshoheit? Gibt es überhaupt noch eine gemeinsame Öffentlichkeit oder sind wir längst auf dem Weg individuelle Teilöffentlichkeiten auszubilden?