Die Politik (in der BRD wie auch weltweit) sieht sich mit einem neuen, mächtigen Phänomen konfrontiert, der Mobilisierung von Menschenmassen über das Internet und die soziale Netzwerke. Ausläufer dieses Phänomens sind die bereits erwähnten globalen Straßenproteste, wie auch die europaweite Massenmobilisierung Anfang 2012, zu dem bei der europäischen Kommission entworfenen Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen kurz ACTA (Anti-Counterfeiting Trade Agreement). Doch nicht nur globale Themen werden in lokale Proteste übersetzt, sondern auch umgekehrt liefern lokale Themen Impulse zur Setzung der nationalen öffentlichen Agenda.
Dabei herrscht aus politischer Sicht Unklarheit und ein Mangel an gesichertem Wissen, wie solche Phänomene einzuschätzen sind bzw. wie mit diesen umgegangen werden soll. Auch die Wissenschaft konnte hierzu bisher nur begrenzt Antworten beitragen. Das zu untersuchende Phänomen ist in seiner Gesamtkomplexität größtenteils unerforscht, wissenschaftliche Studien sind in Arbeit, hinreichende Ergebnisse aus Forschungsprojekten sind allerdings erst mit einiger Zeitverschiebung zu erwarten. Auch diese Studie liefert keine endgültigen Antworten, sondern ist eher als der Beginn einer Diskussion zu verstehen.
Aufgrund verschiedener Eigenschaften wurde das zu untersuchende Phänomen Internet-Tsunamis getauft. Definition:
Ein Internet-Tsunami ist die themenbezogene Artikulation bestimmter politischer Meinungen bzw. Positionen von einer großen Anzahl an Menschen in einem sehr kurzen Zeitraum. Meinungsimpulswellen werden dabei durch einzelne Personen, Gruppen oder Mikronetzwerke erzeugt, stoßen im Internet auf verstärkende bzw. multiplizierende Resonanz und erzeugen Informationskaskaden. Diese werden durch die Leitmedien weiter verstärkt und münden in der Bildung politischer Massen in der Offline-Sphäre.
Der Begriff Internet-Tsunami ist eine Wortschöpfung von xaidialoge und in Anlehnung an das Naturphänomen metaphorisch zu verstehen.
(siehe Abbildung 1‑3)
Bild 1: Tsunamis entstehen durch einen Impuls im Verborgenen, der unterschiedliche Ursachen haben kann (Unterwassererdbeben, Unterwasservulkanausbruch).
Bild 2: Tsunamis verbreiten sich unauffällig in kleinen Wellen und sind daher in ihrem Ausmaß meist schwer oder gar nicht zu erkennen.
Bild 3: Beim Übergang von einem Medium auf ein anderes (Wasser auf Erde, online zu offline) entsteht ein sog. Solitonen-Effekt, „die Riesenwelle“, die vermeintlich plötzlich auftritt, mit verheerenden, umwälzenden Folgen.
Die Tsunami-Metapher – Analogien zwischen realen und Internet-Tsunamis
Analog zu den Wasser-Tsunamis haben die Internet-Tsunamis einen Auslöser. Es gibt ein Ereignis in der realen Welt, über das im World Wide Web diskutiert wird und das damit der Ausgangspunkt von Internet-Tsunamis werden kann.
Technisch gesehen, kann der Auslöser eines Internet-Tsunamis nicht vorhergesehen werden. Die Ausbreitung von Internet-Tsunamis lässt sich nur im World Wide Web verfolgen. Mediensprünge innerhalb der virtuellen Welt können ggf. erkannt werden, der Übertritt und die Auswirkungen in der realen Welt sind software-technisch nicht analysierbar.
Zu klären ist in diesem Zusammenhang auch, wann man von einem Internet-Tsunami überhaupt spricht. Nicht jedes Thema, das im World Wide Web diskutiert wird, „schlägt Wellen“ wie ein Tsunami. Ebenso muss geklärt werden, welche Themen für Politik, Gesellschaft, Demokratie relevant sind und damit auch beobachtet werden sollen.
Eine Metapher ist allerdings immer eine Vereinfachung der Realität, der Leser sollte nicht fehlgeleitet werden, dass es sich bei einem Internet-Tsunami um ein Naturphänomen handelt, dem wir ausgesetzt setzt sind. Natürlich sind Internet-Tsunamis von Menschen gemacht, unter Nutzbarmachung elektronischer Hilfsmittel.
Der Gedanke an einen realen Tsunami weckt meist eine Reihe negativer Assoziationen. Eine Anspielung auf diese destruktive Kraft der Zerstörung ist im Rahmen dieser Studie jedoch keineswegs gewollt, auch wenn diese implizit mitschwingt. Hier geht es im Bedeutungshorizont der Metapher um die Kraft an sich, die ein Tsunami auf die reale Welt ausübt. Diese Kraft der Veränderung begegnet uns auch in Bezug auf Internet-Tsunamis, jedoch im Sinne gesellschaftspolitischer Veränderungen, die ein Internet-Tsunami anstoßen kann.
Im Fokus der hier vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchung steht nicht die normative Bewertung der Folgen solcher Phänomene (Regimes-Stürze, Rücktrittserklärung o. ä.), sondern das Erkennen, Analysieren und Erklären von Mustern und Systemmechanismen.
Dabei gilt es insbesondere auch eine gesellschaftspolitische Perspektive einzunehmen, um der Frage nachzugehen, welche Folgen bzw. Einflüsse solche Massenkommunikationsphänomene auf unser politisches System und die Demokratie im allgemeinen haben kann. Etwas plakativ könnte man fragen, ob sich hier der „Volkswillen“ artikuliert oder ein paar wenige „Strippenzieher“ manipulativ agieren?